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Historischer Tanz. Torwart Henning Fritz (vorne), der Held des Siebenmeterwerfens, jubelt mit dem deutschen Team über den Einzug ins olympische Halbfinale 2004.

© dpa

Handball-Klassiker: Irrwisch gegen Igel

Vor exakt zehn Jahren spielten Deutschland und Spanien bei den Olympischen Spielen in Athen im Viertelfinale eine unglaubliche Handballpartie. Ein Rückblick.

Volker Zerbe hat in seiner Karriere 586 Spiele in der Handball-Bundesliga bestritten, nur Torhüterlegende Jan Holpert bringt es auf ein paar mehr. Zerbe ist außerdem 284 Mal im Trikot der deutschen Nationalmannschaft aufgelaufen, das sichert ihm Platz vier in der ewigen Bestenliste. Außerdem hat der 2,11-Meter-Hüne an vier Olympischen Spielen teilgenommen, Barcelona, Atlanta, Sydney und zum Abschluss Athen. Er hat auch ein paar deutsche Meisterschaften, Pokale und Europapokale gewonnen. Es muss also tatsächlich eine gewisse Bedeutung haben, wenn Volker Zerbe über ein Spiel, das auf den Tag heute vor zehn Jahren stattgefunden hat, sagt: „Das war das außergewöhnlichste Spiel, an das ich mich erinnern kann.“

Am 24. August 2004 beginnt im olympischen Turnier die K.o.-Phase, die deutsche Mannschaft trifft im Viertelfinale auf Spanien. „Da war noch was offen“, sagt Zerbe. In Sydney waren die Deutschen an Spanien gescheitert, jetzt wollen sie Revanche nehmen für die Niederlage (26:27). „Kurz zuvor haben wir die Europameisterschaft gewonnen, wir waren Vize-Weltmeister und sind als einer der Favoriten nach Athen gefahren“, erinnert sich Zerbe, „in der öffentlichen Wahrnehmung war es vielleicht die Höchstzeit im deutschen Handball.“

Bundestrainer Heiner Brand hat in seinem siebten Amtsjahr eine Mannschaft geformt, die neben dem erwähnten EM-Titel später auch die WM gewinnt, 2007 im eigenen Land. Volker Zerbe zählt die Namen seiner Mitspieler aus dem Effeff auf, sie sind Musik in den Ohren eines Handball-Fans: Stefan Kretzschmar, Markus Baur, Daniel Stephan, Henning Fritz, Christian Schwarzer, Florian Kehrmann, der junge Christian Zeitz, Abwehrchef Klaus-Dieter Petersen und eben Zerbe. „Wir wollten unbedingt eine olympische Medaille“, sagt der gebürtige Lemgoer.

Im Helliniko Olympic Complex, der heute ungenutzt verfällt, wird schnell klar, dass die Spanier eine ähnlich überragende Generation besitzen. Spielmacher Talant Duschebajew hat sich seine taktische Unberechenbarkeit auch mit 36 Jahren noch bewahrt, das Tor der Spanier vernagelt David Barrufet, und im linken Rückraum beginnt Iker Romero vom FC Barcelona mit Igel-Frisur. Zerbe muss lachen, wenn man ihn darauf anspricht. Heute ist Romero Publikumsliebling bei Füchse Berlin, wo Zerbe als Sportkoordinator und Ko-Trainer arbeitet.

Vor zehn Jahren bearbeiten sich die Mannschaftsteile von Zerbe und Romero mit allen erlaubten und unerlaubten Mittel, „es war kein unfaires Match“, sagt Zerbe, „aber es war unheimlich intensiv.“ Keiner Mannschaft gelingt es, sich entscheidend abzusetzen. Kurz vor Schluss gleicht Romero mit einem Distanzwurf zum 27:27 aus. Verlängerung, zweimal fünf Minuten. In dieser Zeit gelingen den beiden Mannschaften ganze zwei Tore, ein lächerlich niedriger Wert. „Man darf nicht vergessen, dass es das sechste Spiel in elf Tagen für uns und die Spanier war“, sagt Zerbe, „da ist man in einem Tunnel und versucht irgendwann, einfach nur noch zu funktionieren.“

Spanier wie Deutsche schleppen sich durch die erste Verlängerung, eine Sekunde vor der Schlusssirene verwandelt Daniel Stephan mit stoischer Gelassenheit einen Siebenmeter zum 28:28-Ausgleich. Nach olympischen Regeln heißt das: zweite Verlängerung. Nach 80 Nettominuten Handball, die sich in Wirklichkeit über zweieinhalb Stunden erstrecken, steht es 30:30. Die Entscheidung muss vom Siebenmeterpunkt fallen.

Stefan Kretzschmar greift sich den Ball als Erster – und verwirft. Der Linksaußen bleibt wie versteinert stehen, sein Blick wandert an die Decke, dann eilt Henning Fritz wie ein Irrwisch heran. Der Keeper rüttelt an seinem Freund und klatscht mit ihm ab. Zum Glück können sich Kretzschmar und das deutsche Team auf den Verrückten im Tor verlassen. „Fritze war über das gesamte Turnier in starker Form, aber was er da im Siebenmeterwerfen gemacht hat? Fragen Sie mich nicht“, sagt Zerbe. Fritz hält die ersten drei Strafwürfe der Spanier, der vierte prallt vom Innenpfosten zurück ins Feld, Daniel Stephan trifft wenig später zum 32:30-Endstand, Deutschland steht im Halbfinale.

„Physisch waren wir danach komplett erledigt“, sagt Zerbe, „aber emotional hat uns dieses Spiel einen riesigen Schub gegeben.“ Im Halbfinale besiegen die Deutschen Russland, im Endspiel unterliegen sie Kroatien. „Damals war ich furchtbar enttäuscht, aber mit zehn Jahren Abstand bewerte ich eine olympische Silbermedaille als das, was sie ist: ein großer Erfolg“, sagt Zerbe. Ob er das legendäre Viertelfinale seither noch einmal gesehen hat? „Nicht in kompletter Länge, aber ich habe es als DVD von einem Freund geschenkt bekommen“, sagt er, "von einem sehr, sehr guten Freund."

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