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Europa League - FK Ventspils - Hertha BSC

© dpa

Hertha BSC: Gelegentliche Geistesblitze

Raffael zeigt Herthas Dilemma vor dem Spiel bei Schalke: Das Team ist abhängig von den Launen Einzelner. Als Raffael in Riga untertauchte, geriet Herthas Führung noch einmal in Gefahr.

Berlin - In der Temperamentenlehre der Hippokratiker ist der Übergang vom Phlegma zum Jähzorn nicht vorgesehen. Was war da nur vorgegangen in Raffael Caetano de Araújo, diesem stillen und in sich verschlossenen Fußballspieler, der auf dem Platz trotz aller angeborener Brillanz oft so teilnahmslos wirkt, als sei er zufällig beim Wochenendspaziergang am Stadion vorbeigekommen? Der 173 Zentimeter kleine Mittelfeldspieler huscht meist so unauffällig über den Platz, dass ihn das Publikum schon mal 90 Minuten lang nicht zur Kenntnis nimmt. Ausgerechnet in der Eiseskälte von Riga wirkte der Brasilianer in Diensten von Hertha BSC am Donnerstag so heißblütig, wie es seinen Landsleuten sonst zum Klischee gereicht. Nach einem harmlosen Foul in einer belanglosen Situation baute Raffael sich vor dem ungarischen Schiedsrichter auf und provozierte ihn mit einer dem langweiligen Europa-League-Spiel kaum angemessenen Leidenschaft. Dafür gab es Gelb-Rot, was Herthas Trainer Friedhelm Funkel später mit der Bemerkung goutierte, er wolle schließlich Emotionen auf dem Platz sehen.

Die plötzlich aufkommenden Emotionen kosten Raffael das Mitwirken im letzten, wichtigen Spiel der Europa League am 16. Dezember gegen Sporting Lissabon. Aber am Sonntag, im Bundesliga-Gastspiel bei Schalke 04, ist er selbstverständlich dabei. Der Brasilianer ist in diesen tristen Herbsttagen der Einzige, der so etwas wie Glanz in das Berliner Spiel bringt. Jedenfalls in Nuancen.

Beim bescheidenen 1:0-Sieg in Riga gegen die Letten vom FK Ventspils war Raffael lange Zeit der auffälligste Mann auf dem Platz. Erst schoss er nach zwölf Minuten das Berliner Siegtor, mit einem Sololauf und perfektem Abschluss, wie nur er ihn zustande bringen kann. Er hat dann später noch ein halbes Tor geschossen, als niemand so genau sah, ob der Torwart den Ball erst hinter der Linie zu fassen bekam. Solange Raffael Lust und Spaß hatte, kontrollierte Hertha das Spiel. Als er dann in der letzten halben Stunde immer mehr untertauchte, verlor seine Mannschaft auch den Rhythmus und es wurde noch einmal gefährlich. Und das gegen eine lettische Mannschaft, die eher mittelmäßiges Zweitliganiveau hatte.

Im Skonto-Stadion zu Riga war im Kleinen zu sehen, was im Großen Herthas Problem ist. Die Mannschaft ist abhängig von den Launen eines Einzelnen, vom Spielwitz eines fußballerischen Phlegmatikers. Raffael war der Wunschspieler von Lucien Favre, dem inzwischen geschassten Trainer, mit dem Hertha nur noch über Anwälte redet. Zur gemeinsamen Zeit beim FC Zürich war Raffael mal für ein paar Tage verschwunden, Favre fürchtete schon eine Entführung, aber der Brasilianer wollte einfach nur für sich sein.

Als Favre im Sommer 2007 nach Berlin wechselte, kämpfte er lange und verbissen um seinen Schlüsselspieler. Gemeinsam wären sie in der vergangenen Saison beinahe Deutscher Meister geworden. Im Jahr danach hat es den Trainer vielleicht den Job gekostet, dass sein Lieblingsspieler sich schon im dritten Saisonspiel einen komplizierten Armbruch zuzog. Ohne Raffaels gelegentliche Geistesblitze ging gar nichts mehr bei Hertha BSC. An diesem entscheidenden Wochenende stürzte die Mannschaft so tief, wie es tiefer nicht mehr geht.

Auch Favres Nachfolger Funkel hat die mangelnde Balance im Team zu spüren bekommen. Infrage gestellt hat er Raffael nie. In Riga hat er ihn in Abwesenheit des verletzten Nationalspielers Arne Friedrich zum Kapitän ernannt. Raffael dankte es ihm mit dem entscheidenden Tor, einer über weite Strecken ansprechenden Leistung und einem völlig ungewohnten Gefühlsausbruch. Friedrich wird auch in Gelsenkirchen fehlen. Sollte Raffael auch in der Schalker Arena die Kapitänsbinde tragen, wäre er in der Geschichte des modernen Fußballs wohl der erste Spieler, der für einen Platzverweis belohnt wird.

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