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Hoher Sprung: Sami Allagui feiert den Sieg über Dortmund mit Ersatztorhüter Marius Gersbeck.

© afp

Hertha gewinnt in Dortmund: Lösungen als Losung

Beim Auswärtssieg in Dortmund fehlten Jos Luhukay sechs potenzielle Stammspieler. Der Trainer des Hertha BSC hat seiner Mannschaft ein System verordnet, das weitgehend unabhängig ist von Personen.

In den Fanforen von Hertha BSC kursiert seit einigen Tagen ein Youtube-Clip, der Rune Jarstein, den künftigen Torhüter des Vereins, in, sagen wir mal, etwas ungünstigen Posen zeigt. Der Zusammenschnitt dauert fast fünf Minuten und versammelt eine ganze Reihe von Tollpatschigkeiten. Seriöse Fußballmanager wissen natürlich, dass Youtube-Videos kein Ersatz für sorgfältiges Scouting sind. Oft genug haben sich die schärfsten Torjäger aus dem Internet in Wirklichkeit als ziemliche Flachpfeifen entpuppt; vielleicht ist es bei vermeintlichen Pannentorhütern genau umgekehrt. Andererseits kann man seit Samstagnachmittag durchaus die Frage stellen, warum Hertha überhaupt mit Nachdruck nach einem neuen Torhüter gefahndet hat.

Am Samstag hat Marius Gersbeck für die Berliner in der Bundesliga debütiert, und dass der sichtlich talentierte junge Mann demnächst hinter Jarstein und dem wieder genesenen Sascha Burchert zur Nummer vier zurückgestuft wird, erschließt sich nach seinem Auftritt in Dortmund ganz sicher nicht. Gersbeck, 18 Jahre alt, hatte zwar erheblichen Anteil an Herthas zwischenzeitlichem 0:1-Rückstand; genauso aber trug er mit seiner unaufgeregten Art zum sensationellen 2:1-Erfolg der Berliner über den Champions-League-Finalisten Borussia Dortmund bei. „Eigentlich ist es der Wahnsinn“, sagte Trainer Jos Luhukay. Mitte der Woche fällt auch noch der Stammtorhüter Thomas Kraft aus, nachdem dessen Ersatzmann Burchert schon seit Wochen verletzt ist, und dann kommt ein 18-Jähriger und spielt vor 80 000 Zuschauern im größten Stadion Deutschlands, als hätte er nie etwas anderes gemacht.

Mit dieser Form von Wahnsinn müsste sich Jos Luhukay inzwischen eigentlich bestens auskennen. Es war ja nicht nur der Torhüter, den Herthas Trainer ersetzen musste. Ihm fehlten in Dortmund sechs potenzielle Stammspieler. Von der Defensive, mit der Luhukay in die ersten Saisonspiele gegangen ist, fand sich zum Ende der Hinrunde kein einziger Spieler mehr an seinem angestammten Platz wieder: Torhüter Kraft, Linksverteidiger Johannes van den Bergh, die Innenverteidiger Sebastian Langkamp und John Anthony Brooks – alle krank oder verletzt. Nur Peter Pekarik blieb in der Viererkette, musste allerdings zum ersten Mal links verteidigen statt rechts.

Solche Wechsel sind bei Luhukay fast schon Programm. Per Skjelbred hat im Mittelfeld bereits auf vier verschiedenen Positionen gespielt. Sami Allagui wurde vom Mittelstürmer zum Rechtsaußen umfunktioniert, und Lewan Kobiaschwili, der vor Urzeiten mal im offensiven Mittelfeld angefangen hatte, später Linksverteidiger und Sechser war, fand sich gegen Borussia Dortmund plötzlich in der Innenverteidigung wieder. Von Mittelstürmer Adrian Ramos abgesehen stand in Dortmund kein Feldspieler auf dem Platz, der die komplette Hinserie hindurch auf ein und derselben Position gespielt hat.

Viele dieser Wechsel sind aus der Not geboren, doch Jos Luhukay hat die personellen Probleme nie zu einem großen Problem gemacht – er hat stattdessen Lösungen gefunden. „Wir sind als Mannschaft sehr gut in der Balance“, sagt er. Sein System, das auf Laufbereitschaft, defensiver Stabilität und Ballsicherheit basiert, funktioniert – bis zu einem gewissen Grade – unabhängig von den einzelnen Protagonisten. Und wer sich, wie der freischaffende Künstler Ronny, diesem System nicht unterzuordnen vermag, der hat es bei Luhukay schwer, eine tragende Rolle zu spielen.

Dass die Mannschaft die Ausfälle von Leistungsträgern weitgehend unbeschadet überstanden hat, ist Ausdruck einer für einen Aufsteiger außergewöhnlichen Stabilität. Herthas Hinrunde weist keines der sonst aufsteigertypischen Symptome auf. Die Mannschaft hatte keinerlei Anpassungsprobleme, sie ist unter Rückschlägen nicht zusammengebrochen, und sie hat, nach dem Schwinden der ersten Euphorie, auch nicht ihren Schwung verloren. Im Gegenteil: Hertha schloss die Vorrunde mit drei Siegen ab und überwintert nun mit 28 Punkten auf einem Europapokalplatz.

„Wir wurden noch nicht einmal weggehauen“, sagte Sami Allagui. Selbst als alle damit rechneten, zum Jahresabschluss gegen Borussia Dortmund, wusste sich die Mannschaft auf beeindruckende Weise zu behaupten. Sie steckte den frühen Rückstand weg – und verteidigte in der zweiten Spielhälfte den knappen Vorsprung über die Zeit. „Wir hatten alle einfach ein gemeinsames Ziel: das Tor sauber zu halten“, sagte Lewan Kobiaschwili. Dass dies gelang, lag auch an der Einfallslosigkeit des BVB. Allerdings nahm Hertha den Dortmundern auch jeglichen Raum für Ideen.

„Es ist einfach außergewöhnlich stark, was ihr da macht“, sagte selbst Dortmunds Trainer Jürgen Klopp, wenn auch nicht gerade mit dem Ausdruck unbändiger Freude im Gesicht. Auch nach dem Aufstieg vor zwei Jahren hatten die Berliner 2:1 in Dortmund gewonnen. Damals hatte Klopp die Berliner mit wesentlich mehr Verve gelobt, ihre außergewöhnlichen Offensivqualitäten hervorgehoben und seine Rede mit der Feststellung geschlossen, dass Hertha eben kein typischer Aufsteiger sei. Vielleicht ist genau dieses Denken dem Klub am Ende zum Verhängnis geworden.

Dieses Mal wollen die Berliner, allen untypischen Ergebnissen zum Trotz, lieber typischer Aufsteiger sein. Auf das Gerede vom Europapokal reagieren sie mit ehrlicher Entrüstung. Sie wissen nach den Erfahrungen vor zwei Jahren, welche Gefahren in der Rückrunde noch lauern. Was zum Klassenerhalt noch fehle, wurde Herthas Kapitän Fabian Lustenberger gefragt. Er antwortete: „Zwölf Punkte.“

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