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Wo ist das Wunder? Aus Trainer Otto Rehhagel ist sichtlich der Glaube gewichen. Gewinnt Köln heute in Freiburg und Hertha BSC siegt nicht in Gelsenkirchen, sind die Berliner abgestiegen.

© dapd

Hertha-Trainer Otto Rehhagel: Der Abschied des Märchenerzählers

Wenn Otto Rehhagel am Samstag auf Schalke mit seiner Berliner Mission scheitern sollte, wäre es das tragische Ende einer fast 50 Jahre alten Bundesliga-Geschichte. Der alte Erzähler bereitet nur noch einmal die Bühne für ein Wunder.

Der alte Erzähler ist müde, es gibt keine Geschichten mehr. Stumm und ein wenig krumm schleicht er am Rand der Bühne entlang, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und schaut aus der Ferne zu, wie die Zuhörer anderen lauschen. Otto Rehhagel wirkt ein wenig verloren in den Tagen vor der Abfahrt zu seinem letzten Auswärtsspiel mit Hertha BSC. Seine Mission war der Klassenerhalt, und damit könnte er endgültig scheitern, im Spiel bei Schalke 04. Wie ein unbeteiligter Trainingsgast steht der 73-Jährige in einigem Abstand daneben, während seine Assistenten die Spieler anleiten und alle Blicke zu ihnen gehen. Von Rehhagel kommen nun keine Zwischenrufe mehr, keine Anekdoten, keine Weisheiten, kaum noch Zwiegespräche mehr mit den Spielern. Die gehen oft nur wortlos an Rehhagel vorbei, als würde er langsam unsichtbar, das Gespenst eines einstmals großen Trainers.

Nur wenn hin und wieder ein Ball vorbeisaust, tippelt er in kleinen Dackelschritten hinterher und spielt ein wenig mit ihm. Lässt ihn fliegen, nur für sich, als habe er sich gerade erinnert, warum er eigentlich hier ist: wegen des Fußballs und der jahrzehntelangen Liebe zu ihm.

Wenn der Abstieg des Berliner Traditionsklubs nicht an sich schon beklagenswert genug wäre, wäre das hier die eigentliche Tragödie: Die Art, wie hier eine fast 50 Jahre alte Bundesligageschichte ihr Ende findet. Es droht ein sehr trauriges zu werden. Natürlich sind die letzten Zeilen noch nicht geschrieben. Zum Abschluss könnten sie Rehhagel noch einmal hochleben lassen, wie in Bremen, in Kaiserslautern, Athen. Doch nicht viel deutet mehr darauf hin, am wenigsten Rehhagel selbst.

In den gut drei Berliner Monaten scheint er um Jahre gealtert zu sein. Als er hier auftauchte, von bundesweiter Hysterie begleitet, staunte man, wie wenig er sich verändert hatte. Dieselbe Frisur und Statur. Dieselbe lausbübische Zahnlücke. Die blauen Augen, die ganz groß werden, wenn er sich vorbeugt und mit erhobenen Augenbrauen eine seiner Geschichten erzählt. Und dann schmunzelnd die große Bühne genießt. Das Publikum darf zuhören, aber nicht stören.

Damals sah er nicht nach 73 Jahren aus. Heute schon. Oft nur noch in seinem Stuhl zusammengesunken, sich selbst mit den Armen haltend, der Blick wandert irgendwo ins Leere, Richtung Heimat, Essen, vielleicht. Keine Gedichte mehr, keine gestreichelten Hunde, keine Bundespräsidentenwahlen, keine Abendessen beim Außenminister. Der Pressesaal nur noch halb voll, es wollen nicht mehr viele zuhören. Zwei Siege und sechs Niederlagen in zehn Spielen ändern viel.

Auf dem Platz wirkt Rehhagel wie das Gespenst eines großen Trainers

Und auch die Geschichten sind nicht mehr dieselben, auch wenn es die immer selben sind. Als er wieder davon anfängt, wie die Schweiz doch bei der WM 2010 eine 10:0-Deckung gegen Spanien gespielt und gewonnen habe, als wolle er mathematisch beweisen, wie sinnlos alle Diskussion um Defensive oder Offensive sei, da werden die Augen nicht mehr groß. Er leitet ein mit einem „Das habe ich glaube ich neulich schon mal erzählt...“. Dabei hat er doch alles neulich schon mal erzählt, ohne dass ihn das vorher gestört hätte. Und auch wenn er wieder einmal auf die Presse schimpft, wirkt es nur halb so beherzt wie zu Beginn. Seine Auftritte sind bedrückend ernst geworden.

Der Märchenerzähler Rehhagel ist verloren gegangen über all die Niederlagen. Früher hätte er seine mit kehlig-sonorer Stimme vorgetragene Weisheit oder Anekdote im Raum stehen lassen, ihr verliebt nachgesehen und ein allwissendes „Nicht wahr?“ hinterhergeseufzt.

Rehhagels Sprüche und seine Karriere in Bildern:

Wie bei seiner Ankunft. „Ich habe ja nichts mehr zu verlieren. Nicht wahr?“ Besonders besorgt klang er dabei nicht. Berlin liegt ihm am Herzen, ist aber vor allem ein Podium, um zu erzählen, dass die alten Weisheiten noch gelten. Und wenn es nicht klappt, kann es ihm nichts mehr anhaben. Dafür hat er schon zu viel erreicht.

Vielleicht stimmt das auch. Wenn in zehn oder zwanzig Jahren die Fußballhistoriker die Geschichte des Otto Rehhagel erzählen, dann wird dieses Berliner Kapitel wohl nur eine Randnotiz sein, so wie die vielen Entlassungen zu Beginn seiner Trainerkarriere oder die 0:12-Niederlage mit Borussia Dortmund. Alles vergessen, verdrängt von den Bildern des Wundertrainers, der mit Bremen, Kaiserslautern und Griechenland Unvorstellbares schaffte.

Vielleicht waren es diese Wunder, die ihn irgendwann zu der Annahme verleiteten, er habe alle Weisheiten entdeckt. Auch die, wie diese haltlose Hertha noch vor dem Abstieg zu bewahren sei. Er glaubte, dass es hier wirklich würde wie bei Goethes Zauberlehrling, den er anfangs noch häufig zitierte. Der junge Lehrling hat sich übernommen und ruft den alten Hexenmeister herbei, der nur die richtigen Sprüche bringen muss. Aber der alte Meister hat sich selbst übernommen. Die Sprüche wirken nicht mehr. Er hat sich über- oder die Situation unterschätzt. Vielleicht war ihm auch einfach nur langweilig, wenn nach 50 Jahren keiner mehr zuhört, außer seiner Beate. „Ein Leben ist viel zu kurz“, hatte er bei seiner Vorstellung gesagt, „solange ich lebe, will ich Spannung haben. Es sind ja nur drei Monate. Es wird eine spannende Zeit.“

Rehhagel muss sich gerade eingestehen, dass er fehlbar ist

Und nun, da die drei Monate spannender waren, als er es je hätte befürchten können, ahnt er: Ich habe hier doch etwas zu verlieren. Nicht vor der Presse oder den Fans, die haben ja keine Ahnung. Nein, vor der einzig wichtigen Instanz: sich selbst. Rehhagel beweist sich gerade, dass er fehlbar ist. Und dass seine Weisheiten nicht mehr gelten.

Er will es nicht wahrhaben. Also bereitet er Ausflüchte vor. Gesichtswahrungsmaßnahmen, mit denen er vor sich selbst bestehen kann. „So etwas wie hier habe ich noch nirgendwo erlebt“, sagte er jetzt immer wieder. Und führt Verletzungen, Sperren, vergebene Chancen und Eigentore – Selbsttore, wie er sie nennt. Ein Begriff, der andeutet, wie aus der Zeit gefallen Rehhagel wirkt. Vor einer Mannschaft aus Millionären, die glauben müssen, da steckt ihnen jemand Groschen zu, wenn Rehhagel zehn Euro Prämie für gelungene Torschüsse auslobt.

Das erste Training unter Otto Rehhagel bei Hertha BSC. Kalt war's:

Als Torwart Thomas Kraft gefragt wird, was Rehhagel dem Team eigentlich gesagt habe nach der erschütternden Niederlage gegen Kaiserslautern und vor dem großen Abstiegsfinale, überlegt er lange. Und sagt dann, er wisse es nicht mehr genau. „Er hat nicht viele Worte gefunden“, sagt Kraft, die Situation sei „halt schwierig“.

Rehhagel ist sensibel, wie alle großen Erzähler-Egos sensibel sind. Es muss ihn tief treffen, dass er hier und heute, zwölf Jahre nach seinem letzten Bundesliga-Engagement, nichts mehr bewegen kann. Dass ihm keiner mehr zuhört. Dass „Clever spielen!“ nicht mehr ausreicht als Handlungsanweisung in diesem hoch komplexen Spiel. Und Geschichten von früher die Probleme von heute nicht lösen. Es muss ihn kränken, dass Ralf Rangnick als sein Nachfolger im Gespräch ist. Einer, der nicht das Märchenbuch, sondern die Taktiktafel unter dem Arm trägt.

Aber dennoch: Er hat an einige alte Werte erinnert, die fast verloren gegangen sind in diesem verlogenen Geschäft. Es hat noch eine gewisse Klasse, wenn er nach enttäuschenden Niederlagen die Contenance wahrt und sich, wenn auch mit sehr alten Weisheiten, stellt. Das ist selten geworden, zumindest bei Hertha.

Und vielleicht ist es ja auch nicht so, dass Rehhagel, der Geschichtenerzähler, nichts bewirkt hat. Dann könnte gerade das seine letzte Pointe sein: Dass eine Mannschaft, die derart grausam spielt, zwei Spieltage vor Schluss tatsächlich noch eine Chance auf den Klassenerhalt hat. Dann bereitet der alte Erzähler hier nur noch einmal die Bühne für ein Wunder. Wenn dies seine letzte Geschichte ist, dann wäre sie gut erzählt. Fast zu gut.

Nicht wahr?

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