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Warmes Blau. So viel Spaß hat Hertha BSC lange nicht gemacht. Nach der Hinrunde liegt der Aufsteiger mit 28 Punkten auf einem Europapokalplatz.

© dpa

Hertha vor der Rückrunde: Die Passkontrolle

Sie haben keine großen Namen im Kader. Aber die brauchte es auch gar nicht. In dieser Saison hat Hertha BSC so befreit gespielt wie selten. Im Trainingslager hat die Mannschaft nun entdeckt, woran das liegt – und wie sie dem Fluch der verpatzten Rückrunde entgehen kann.

Wenn die Sonne hinter den Bäumen verschwunden ist, dauert es noch eine halbe Stunde, bis das Licht am schönsten ist. Über dem Trainingsplatz steht der Mond, satt und klar, die Kondensstreifen der Flugzeuge fransen langsam aus, und der Himmel färbt sich rosarot. So malerisch kann ein Trainingslager im Winter sein. Nur die Hintergrundgeräusche passen nicht dazu. Hinter dem Zaun, gleich neben dem Fußballplatz von Hertha BSC in Belek, rumpeln Kipplaster über eine Schotterpiste, Bagger lärmen im Dauereinsatz. Es dröhnt und knallt, selbst wenn es längst dunkel ist.

Irgendwo zwischen Rosarot und Baustelle, genau da befindet sich Hertha BSC im Moment.

Rosarot ist die Gegenwart, spätestens seitdem die Mannschaft das Jahr 2013 mit einem Sieg beim Champions-League-Finalisten Borussia Dortmund abgeschlossen hat. Nach der Hinrunde liegen die Berliner mit 28 Punkten auf einem Europapokalplatz, und das als Aufsteiger. Besser waren sie seit vier Jahren nicht, was allerdings auch daran liegt, dass Hertha von diesen vier Jahren zwei gar nicht in der Bundesliga gespielt hat – und in den anderen beiden abgestiegen ist.

An diesem Donnerstag kehrt die Mannschaft aus dem Trainingslager in Belek zurück; als sie vor einer Woche in die Türkei aufgebrochen ist, flog auch die Erinnerung mit, dass alles auch ganz anders laufen kann. Bereits vor zwei Jahren haben die Berliner in Belek im selben Hotel gewohnt. Sie waren ebenfalls im Sommer zuvor aufgestiegen, hatten in der Hinrunde 20 Punkte geholt und als Tabellenelfter überwintert. Nichts, weswegen man sich Sorgen machen müsste also. Doch dann erlebte der Verein in der Rückrunde einen denkwürdigen Absturz. Er begann mit Michael Skibbe als Trainer und fünf Niederlagen am Stück und endete mit Otto Rehhagel auf der Trainerbank und dem Abstieg in die Zweite Liga. Belek, das Hotel, die Erinnerung, „das schärft die Sinne“, sagt Herthas Kapitän Fabian Lustenberger.

Natürlich kennt auch Jos Luhukay, der Trainer, diese Vorgeschichte. Vor einem Jahr hat der Niederländer seine wichtigsten Spieler gefragt, ob es irgendwelche Vorbehalte gegen Belek und das Hotel gebe. Ein schlechtes Karma? Ein böses Omen? Am Ende hat der Pragmatismus über die Psychologie gesiegt. Der Trainingsplatz liegt gleich am Hotel, die Mannschaft muss zu ihren Einheiten nicht erst mit dem Bus durch die Gegend gekarrt werden, und der Rasen ist auch wieder in tadellosem Zustand, perfekt getrimmt wie ein Golfplatz.

Auf seiner Homepage rühmt sich das Hotel, seinen Gästen „eine eigens geschaffene Welt“ mit sämtlichen Annehmlichkeiten zu bieten. Wie eine trutzige Burg liegt es auf einer leichten Anhöhe direkt am Mittelmeer. Über gut 250 Meter zieht sich die geschwungene Front, fünf Etagen hoch, 40 Balkone breit, als hätte jemand einen Haufen riesiger Schuhkartons übereinandergestapelt. In der zweiten Reihe von oben, am 13. Balkon von rechts, hängt eine blau-weiße Hertha-Fahne.

Jos Luhukay ist dabei, mit dem Verein eine neue Geschichte zu schreiben.

Jos Luhukay hat seine Spieler gleich am zweiten Tag in den Besprechungsraum gebeten. Normalerweise hält sich Herthas Trainer bei solchen Gelegenheiten kurz, weil die Aufmerksamkeit nach 15, 20 Minuten erfahrungsgemäß deutlich nachlässt. Diesmal aber spricht Luhukay fast dreimal so lange. Die Angelegenheit ist wichtig. Der Trainer projiziert Spielszenen aus der Hinrunde auf die Großbildleinwand, gute und weniger gute, er trägt diverse Statistiken vor. Und am Ende wissen Herthas Spieler nicht nur, dass sie in der Hinrunde erfolgreich und gut waren – sie wissen jetzt auch, warum. „Es ist kein Glück, es ist auch kein Zufall“, sagt Luhukay. „Da steckt eine Vorarbeit drin.“

Positive Verstärkung nennt man das wohl. Aber die Spieler kennen Luhukay auch anders. Laut und unzufrieden. Am ersten Tag in Belek brüllt er über den Platz: „So ein Scheißpass! Das muss besser sein. Mehr Konzentration!“ Flach, schnell und direkt sollen die Bälle gespielt werden. Und präzise. Ein falscher Pass kann alles kaputtmachen. In dieser Hinsicht ist Luhukay ein Pedant.

Zum vereinbarten Termin in der ausladenen Hotellobby kommt Herthas Trainer pünktlich auf die Minute. Er nimmt auf einer schwarzen Ledercouch Platz und lehnt sich zurück. Nach der ersten Antwort rückt Luhukay nach vorne, er beugt sich vor und stützt seine Arme auf die Oberschenkel – als kämen ihm die entspannte Haltung und die Distanz unangemessen vor.

Seit anderthalb Jahren arbeitet der Holländer jetzt für Hertha BSC. Er ist nach dem Abstieg gekommen, hat die Mannschaft nach seinen Vorstellungen geformt und souverän den Aufstieg geschafft. Man könnte auch sagen: Luhukay ist dabei, mit dem Verein eine neue Geschichte zu schreiben. „Hertha hat sich in Deutschland wieder eine positive Anerkennung erspielt“, sagt er. „Ich will nicht sagen, dass der Verein zur Ruhe gekommen ist; aber er ist zurück in der Seriosität.“

Mit einer Mischung aus Erstaunen und Hochachtung registriert die Konkurrenz, was gerade in Berlin passiert. In Herthas Kader finden sich keine großen Namen, und trotzdem hat die Mannschaft selbst mit den größten Größen des deutschen Fußballs mithalten können. Luhukay verweist stolz darauf, dass kaum jemand die Bayern in der Vorrunde so sehr gefordert habe wie Hertha, auch wenn das Spiel in München knapp verloren ging. Die Mannschaft spielt ehrlichen Fußball, mit Lust und Leidenschaft, ebenso wie mit Verstand und Plan. Das ist vielleicht noch wichtiger als die Punktausbeute.

So viel Spaß hat Hertha BSC lange nicht gemacht. Luhukay lobt seine Mannschaft bei jeder Gelegenheit; es sei die beste, die er je trainiert habe. Er preist ihren Charakter, ihre Einstellung, ihren Zusammenhalt. Manchmal sind es Kleinigkeiten, die das belegen. Als zum Beispiel Farid Abderrahmane den Ball beim Torschusstraining aus 18 Metern genau in den Winkel zirkelt, volley und mit dem Vollspann. Abderrahmane ist 17, er darf in der Türkei zum ersten Mal mit den Profis trainieren, und, ja, er ist ein wenig eingeschüchtert. Adrian Ramos, Fabian Lustenberger, Ronny, das sind nun mal keine normalen Kollegen, das sind die Idole, zu denen er normalerweise aufblickt. Natürlich registriert die Mannschaft das. Und nachdem sein Schuss im Winkel gelandet ist, fangen die Profis laut an zu jubeln. Einer nach dem anderen kommt angelaufen und schlägt Abderrahmane anerkennend auf den Hinterkopf. Hey, Junge, heißt das, du bist jetzt einer von uns.

Michael Preetz, Herthas Manager, sieht nicht die geringsten Anzeichen, dass diese Mannschaft auseinanderfallen könnte. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre reichen Hertha vermutlich zwei Siege aus den 17 Spielen der Rückrunde, um sich den Verbleib in der Bundesliga zu sichern. Trotzdem: „Es gibt keine Ermüdung“, sagt Preetz.

Über allem steht das, was Jos Luhukay als "das große Ziel" bezeichnet.

Aber was kommt danach? Seit Wochen werden die Spieler mit solchen Fragen konfrontiert: Muss sich die Mannschaft nicht langsam mal neue Ziele setzen? Ist der Europapokal möglich? „Wir liegen auf einem Tabellenplatz, bei dem man an die Europa League denken kann“, sagt Luhukay. Eigentlich sei es ja positiv. „Aber es ist wichtig, dass wir uns nicht mit diesem Ziel beschäftigen. Wir müssen versuchen, ausgeglichen zu bleiben.“

Jos Luhukay hat sich an diesem Montag ein  klares Ziel gesetzt. Als die Spieler einen Nachmittag zur freien Verfügung haben, ist ihr Trainer mit seinem Assistenten Markus Gellhaus laufen gegangen. 15 Kilometer haben sie sich vorgenommen, fünf mehr als sonst. „Wir werden beißen müssen“, sagt Luhukay. Am Ende schafft er 18.

In der Zweiten Liga hat Luhukay seiner Mannschaft von Beginn an konkrete Ziele vor Augen gehalten. Ab Oktober werde sie schwer zu schlagen sein, prognostizierte er im Sommer; im Winter gab er das Ziel aus, er wolle als Zweitligameister aufsteigen. Genauso ist es gekommen. Lässt sich das nicht auch auf die Bundesliga übertragen? Nein, nein, antwortet Luhukay, dazu sei die Konkurrenz viel zu stark, außerdem würde es die Spieler zu sehr unter Druck setzen. Herthas Trainer arbeitet in dieser Saison mit Handlungszielen. Schneller denken, schneller handeln, schneller spielen. „Der Antrieb ist, die Mannschaft von Tag zu Tag ein Stück mehr Richtung Perfektion zu bringen“, sagt er. Über allem steht das, was Luhukay als „das große Ziel“ bezeichnet: Hertha dauerhaft in der Bundesliga zu etablieren.

Michael Preetz weiß, dass dies für die Öffentlichkeit nicht gerade spektakulär klingt, „aber ich finde, dass die Herausforderung groß genug ist“. Selbst wenn die Mannschaft in diesem Jahr den Klassenerhalt schaffe, „stehen wir in der neuen Saison wieder bei null“. Ist das wirklich noch die alte Hertha, der es nie schnell genug gehen konnte? Und die immer für eine gewisse Großkotzigkeit stand? Hey, wir sind Berlin, wir sind der Hauptstadtklub. „Wenn wir diese Saison auf einem guten Tabellenplatz beenden, wird die Erwartung für die nächste Saison wahrscheinlich noch ein Stückchen höher sein“, fürchtet Jos Luhukay. „Wir können nicht in einem Jahr zwei, drei oder vier Schritte machen.“

Hertha ist immer noch ein wackliges Konstrukt, gerade die finanziellen Möglichkeiten bleiben auf absehbare Zeit beschränkt. Von den sechs im Sommer verpflichteten Spielern hat nur Hajime Hosogai die bescheidene Ablöse von einer Million Euro gekostet. Vermutlich wird es auch zur neuen Spielzeit nicht anders sein. Hertha ist mit knapp 40 Millionen Euro verschuldet, viel Geld werde man jedenfalls nicht in die Hand nehmen können, um die Mannschaft zu verstärken, sagt Manager Preetz. „Wir müssen unsere vorhandene Qualität weiterentwickeln.“

Jos Luhukay tut das jeden Tag auf dem Trainingsplatz. Er lässt Passformen üben bis zum Überdruss, unterbricht die Übungen immer wieder, macht vor, wie es geht, mahnt zur Genauigkeit – und übertönt mit seiner Stimme selbst das Dröhnen der Laster und Bagger auf der Baustelle nebenan. „Aufdrehen, anspielen, klatschen lassen!“, ruft er. „Patsch, patsch, jawohl, das ist gut.“ Die Bälle surren übers Feld, und es scheint, als würden Luhukays Worte vom Spielfluss auf dem Rasen regelrecht mitgerissen. Am Ende der Einheit sitzen die Spieler im Kreis auf dem Boden. Der Trainer steht in ihrer Mitte und redet. Hinterher erzählt er, dass er seiner Mannschaft gesagt habe, wie beeindruckt er von ihr sei.

Als die Spieler nach dem Training die Anhöhe zu ihrer Burg hinaufstapfen, verschwindet Jos Luhukay in einem Tunnel. An der Decke hängen Neonröhren, an der Seite sind die Rasenmäher des Hotels deponiert und die elektrischen Golfwägelchen geparkt. „Kalt und düster ist es da“, sagt Herthas Verteidiger Christoph Janker. Und eine echte Abkürzung ist der Tunnel auch nicht. Am Ende führt eine Treppe genau vor den Hoteleingang. Aber Luhukay freut sich jedes Mal, dass er unter der Erde zwischen Beton und Neonlicht mal eine Minute für sich sein kann. „Man kommt eben wieder zurück in die Realität“, sagt er. „Das ist eigentlich nicht verkehrt.“

Erschienen auf der Dritten Seite.

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