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Herthas Defensive: Riss im Fundament

In der vergangenen Saison glänzte Hertha BSC in der Defensive. Doch ohne Josip Simunic hat Arne Friedrich nun Probleme, seine Abwehr zu sortieren.

Eine Konstante hat Hertha BSC hinübergerettet in die neue Zeit. Die Konstante trägt den Namen Patrick Ebert, sie rennt und flankt und grätscht auf der rechten Seite und ist am Samstag beim 2:2 im Testspiel beim FC St. Pauli von den Fans minutenlang gefeiert worden mit politisch natürlich nicht korrektem, aber bemerkenswert kreativem Gesang: „Patrick Ebert! Du alter Rowdy! Du trittst die Spiegel ab! Mitten in der Nacht! Und schmeißt die Roller um!“

Moment mal. Immer noch ist offen, ob Patrick Ebert vor ein paar Monaten nach einer fröhlichen, aber keinesfalls erwiesenermaßen feuchten Geburtstagsfeier sich am Eigentum anderer versündigt hat. Aber darüber geredet und gesungen wird immer noch in einer Kontinuität, die so gar nicht passen will zu dem, was sonst so rund um den Verein passiert. Ist das wirklich noch Hertha? Hertha BSC? Im Sommer 2009 irrlichtert da ein Phantom über den Radarschirm der Fußball-Bundesliga, das keiner so richtig einzuschätzen vermag. Und keiner weiß so recht, ob das nun ein gutes Zeichen ist oder ein schlechtes.

Zwei Wochen vor dem ersten Bundesligaspiel gegen Hannover 96 erscheint Hertha BSC wie eine konvexe Spiegelung der Mannschaft, die in jüngster Vergangenheit ganz Deutschland und auch sich selbst überrascht hat. Wo einmal Schwächen waren, scheinen heute Stärken zu liegen. Die Berliner stürmen mit mehr System und weniger Ballkontakten, die Standardsituationen klappen so gut wie selten zuvor, nahezu jeder Eckball, den der Brasilianer Rafael tritt, beschwört Gefahr herauf. Wahrscheinlich hätte das vor ein paar Wochen zur Qualifikation für die Champions League gereicht. Damals war ein geschossenes Tor schon die halbe Garantie für einen Sieg, weil Herthas Defensivmanagement noch jeden Gegner zur Verzweiflung trieb.

Das optimierte Offensivverhalten aber ist nur die angenehme Hälfte der Wahrheit. Hertha stürmt zwar besser, aber das defensive Fundament hat Risse bekommen. Natürlich sind Testspiele nur ein bedingtes Kontrollinstrument, aber es ist schon auffällig, welcher ungewohnten Freiheiten sich selbst unterklassige Gegnerschaft im Berliner Strafraum erfreut hat. Dass Teams wie Rot-Weiß Prenzlau, der 1. FC Union, Wiener Neustadt, SSV Ulm und der FC St. Pauli zusammen zehn Tore gegen Hertha erzielt haben, dürfte auch Trainer Lucien Favre irritiert haben.

Die Verantwortung dafür trägt nicht nur, aber auch der Mannschaftskapitän. Arne Friedrich hat es immer gewurmt, dass der Trainer ihn eher als braven Arbeiter auf der rechten Seite denn als kreativen Gestalter in der Innenverteidigung gesehen hat. Lucien Favre hatte sich lange dagegen gesträubt, seinen Kapitän mit strategischer Verantwortung zu betrauen. Als dieser zum Finale der vergangenen Saison mit Verletzungen zu kämpfen hatte und in der Rekonvaleszenz um Vertrauen warb, vertraute der Schweizer lieber seinem Landsmann Steve von Bergen, was nach dem Debakel am letzten Spieltag in Karlsruhe in einer heftigen Vertrauenskrise zwischen Trainer und Kapitän kulminierte.

Die Eindrücke der vergangenen Wochen legen den Eindruck nahe, dass Favres Einschätzung so falsch wohl nicht war. Dass Friedrichs Aufstieg zur neuen Größe im Abwehrzentrum in der vergangenen Saison vor allem der Spielkunst seines Nebenmannes Josip Simunic geschuldet war. Der aber verteidigt seit ein paar Wochen nicht mehr in Berlin, sondern 500 Kilometer weiter südwestlich in Hoffenheim. Und sein Verlust wird Hertha BSC härter treffen als der Abschied der stürmenden Paradiesvögel Marko Pantelic und Andrej Woronin.

Josip Simunic war Herthas Erfolgsgeheimnis der vergangenen Saison. Der Australo-Kroate gestaltete Herthas Verteidigungsarbeit mit einer Intelligenz und Übersicht, die Arne Friedrich sich erst erarbeiten muss, wenn denn so etwas überhaupt möglich ist. Wie schwer Simunics Erbe wiegt, war nicht nur, aber auch in St. Pauli zu sehen. Beide Gegentore kassierte Hertha nach Zuordnungsfehlern, wie sie zu Simunics Zeiten so gut wie nie vorkamen. Einmal ermöglichte fahrlässiges Abwehrmanagement eine Lücke zwischen Friedrich und Rechtsverteidiger Lukasz Piszczek, die im Zweifelsfall in die Verantwortung des Innenverteidigers fällt. Und beim 2:2 waren sich Friedrich und sein Passmann von Bergen nicht einig, wer denn per Kopf klären sollte.

Herthas Kapitän kontert spezielle Kritik mit der allgemeinen Feststellung, dass es „in der Abstimmung noch nicht stimmt“. Das ist korrekt beobachtet, denn Defensivverhalten ist nie eine Sache der Verteidiger allein. Auch der Mittelfeldspieler Maximilian Nicu moniert, „dass wir vor allem in der Offensive besser verteidigen müssen“, aber das entschuldigt nicht die Fehler, die das Abwehrzentrum zu verantworten hat. Friedrich sieht sich dort als gesetzt, die Suche nach einem neuen Innenverteidiger hat er interessiert verfolgt unter besonderer Berücksichtigung der Fragestellung: Wer passt am besten zu mir? Ein großer, erfahrener Mann hätte es nach seinem Willen sein sollen, aber Favres Wahl fiel auf den 21-jährigen Nemanja Pejcinovic, mit 1,84 Metern eher durchschnittlich gewachsen.

Friedrich hat das zur Kenntnis genommen und nicht als Bedrohung seiner Pfründe interpretiert. Aber was ist es denn sonst? An Pejcinovic schätzt Favre vor allem dessen strategisches Geschick, die Fähigkeit, das Spiel schnell und die Räume eng zu machen. Der Serbe gehört zur Generation der modernen Innenverteidiger, die schon mit den ersten Schritten auf dem Fußballplatz das räumliche Denken verinnerlicht haben. Friedrich ist das Kind einer Zeit, in der Deutschland noch an Libero und Vorstopper glaubte. Das heute zeitgemäße Spiel hat er auf dem zweiten Bildungsweg erlernt.

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