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Herthas Gegner Freiburg: Zwei auf einen Streich

Brüllmächtig am Fußballfeld, sonst eher Philosoph und differenziert in der Sache: Christian Streich trainiert den SC Freiburg, der mit ihm wundersam erfolgreich spielt. Heute kommt der Verein nach Berlin.

Aussichtslose Sache. Himmelfahrtskommando, wie man sagt. Da brauchte er gar nicht nachzudenken. Obwohl er sonst ein großer Nachdenker ist. Aber hier gab es wirklich nichts zu überlegen. Natürlich hat er Nein gesagt.Später ist er dann ins Grübeln geraten. So ein Angebot bekommt man nicht alle Tage. Also ist er zuerst mit sich zu Rate gegangen und dann mit seinen besten Freunden. Und dann hat er noch einmal Nein gesagt. Aussichtslose Sache eben.

Am nächsten Tag haben sie ihn erneut gefragt. Und da hat er plötzlich Ja gesagt. Aber er hat dabei gezittert. Das war kurz vor Jahreswechsel. Seitdem ist Christian Streich Cheftrainer der Bundesligamannschaft in Freiburg.

Die aussichtslose Sache: Zu jener Zeit stand der SC Freiburg am Tabellenende und spielte, wie aussichtslose Fälle spielen. Die 7:0 Niederlage gegen die Bayern aus München war keineswegs die einzige Schmach. Die Mannschaft war mausetot.

Ein paar Monate später blühen in Freiburg die Forsythien und die Zierkirschen und die Magnolien, die Fliederbüsche haben kleine Kerzen aufgesteckt, auf dem Münsterplatz wird der erste Spargel verkauft. In den Vorgärten der Reihenhäuser neben dem Fußballstadion herrscht ein reges Pflanzen und Harken. Der Frühling ist ausgebrochen, und der SC Freiburg hat aus den vergangenen sechs Spielen 14 Punkte geholt. Am Tabellenende stehen längst andere Mannschaften, der Verein ist auf Platz 13 geklettert, und der Abstieg ist vielleicht bloß noch ein Gespenst. Es ist ein Wunder geschehen. Das Wunder heißt Christian Streich.

Auf einmal hat die Pressestelle, in der es im vergangenen Jahr eher bedenklich ruhig zuging, viel zu tun. Weil plötzlich in ganz Deutschland, jedenfalls in dessen fußballinteressiertem Teil, offenbar kein dringenderes Bedürfnis herrscht, als diesen Mann kennenzulernen. Es hat sich nämlich etwas herumgesprochen: Dieser Christian Streich mit seinen 46 Jahren ist der erstaunlichste Trainer der Liga. Manche sagen auch: der verrückteste. Ein Kauz mit schwerstgängigem alemannischen Idiom; einer, der Fahrrad fährt statt Porsche; der vor lauter Begeisterung schon mal seinen Torwart küsst; der auf Pressekonferenzen so seltsame Dinge sagt, dass heimische Medien die Rubrik „Der Streich der Woche“ erfunden haben.

Man muss ihm nur einmal zuschauen. Wie er da an der Außenlinie tobt, ins Spielfeld brüllt. Ein Springteufel. Ein Derwisch. Die angegrauten Haare stehen wirr zu Berge, als hätte der Blitz eingeschlagen („Dabei kämme ich mich jeden Morgen“). Ein Emotionsbündel, gierig nach dem Spiel, nach dem nächsten Doppelpass, gierig nach der Aufregung.

Und dann sitzt dieser Christian Streich hinterher, wenn der Schlusspfiff gepfiffen ist, in der Pressekonferenz und ist auf einmal ein ganz anderer Mensch. Ein Zögerer, ein Schweiger. Mühsam bröckeln die Sätze aus dem südbadischen Mund, bedächtig kaut er die Worte, denkt nach, verstummt, was sag ich nur?, wie sag ich’s nur? Ich, der Metzgerssohn aus Eimeldingen an der Schweizer Grenze. Versteht mich hier überhaupt jemand?

Streich verteidigt mit Lust das Recht seiner Spieler, Fehler zu machen

Der Brüllmächtige von der Trainerbank wird vor dem Mikrofon zum stillen Mann, erläutert freundlich, warum er diesmal gar sechs blutjunge Spieler aus dem Freiburger Fußballinternat in die Anfangsformation gestellt hat. Sagt ein Wort und keins zu viel, braucht dann eine Pause und gleich noch eine.

Zum Beispiel nach dem Sieg über den HSV. Er habe jetzt nur das Spiel karg analysiert, moniert ein Journalist in der Pressekonferenz, aber gar nichts über seine Gefühle offenbart. Christian Streich macht nun ein Gesicht, als hätte man von ihm verlangt, auf dem Pressetisch Tango zu tanzen. „Ach so“, sagt er dann, „Sie wolle eine emotionale Analyse.“ Und macht eine große Pause. Alle warten nun auf den Ausbruch der Gefühle, auf das Triumphgeheul des Siegers. Und Christian Streich – Pause, Pause, Pause – sagt: „Ich hab mi gfreut.“ Ende.

Streich am Spielfeldrand, Streich in der Öffentlichkeit. Diesen Mann, keine Frage, gibt es doppelt. Zwei auf einen Streich.

Und dann sitzt dieser zwiefache Mann, als wäre er nur eine einzige Person, im Besprechungszimmer neben dem Freiburger Stadion, blaue Trainingshose, blaues T-Shirt, und sagt: „Ich glaube nicht, dass Menschen eindimensional sind. Manchmal sind sie laut und manchmal leise, mal sind sie schön und ein andermal nicht so schön.“ Das sei doch ganz normal. Aber kaum, dass er das sagt, muss er sich gleich widersprechen. Denn normal, „also was normal ist, das weiß ich nicht“.

Und nun beginnt eine Demonstration der hohen Kunst des Selbstwiderspruchs, eine Lektion feinster Dialektik. Auf jedes Ja folgt ein Nein, auf jedes Nein ein Ja. So war es bei seiner Entscheidung, ob er den Posten des Cheftrainers annehmen soll, so ist es jeden Tag. Dass er sich jetzt dauernd im Fernsehen sehen müsse, das gefalle ich ihm gar nicht. „Ich seh mich nicht gern.“ Aber, noch im selben Atemzug, so schlimm sei das nun auch wieder nicht. Und im nächsten: Manchmal aber sei das, was Medien mit den fußballspielenden Menschen anstellten, ganz unerträglich. Bilder von verzerrten Gesichtern, von verdrehten Augen – nein, das darf nicht sein, das mache ihm regelrecht Angst. Aber – wieder eine Drehung um die eigene Achse –, „aber ich bin froh, dass mir das Angst macht. Weil ich dann merke, ich spüre noch was.“

Darum geht es ihm: etwas spüren, etwas lernen, etwas begreifen. Oder wie Christian Streich sagen würde: Erkenntnisse haben. Zum Beispiel sich daran erinnern, dass Fußball nur ein Spiel ist, und es deshalb keine Katastrophe sei, keinen Erfolg zu haben. Und verteidigt nachgerade mit Lust das Recht seiner Spieler, Fehler machen zu dürfen. Erst dann könne man schließlich lernen, wie man es besser macht. „Das Ergebnis darf nicht oben stehen.“ Aber damit nun keiner glaube, er mache sich die Sache jetzt doch ein bisschen leicht, folgt der Widerspruch auf dem Fuß: „Ich nehme das alles wahnsinnig ernst.“

Längst sind jetzt die berüchtigten Pausen aus seinen Sätzen verschwunden, er redet sich in einen Feuereifer, will kein Ende finden, die blauen Augen funkeln dazu, und die Hände greifen groß in die Luft. Der Mann ist jetzt ein Kraftwerk, er muss seine Worte nicht mehr suchen, und man versteht sofort, welche Wirkung sie auf Spieler haben müssen. Welches Feuer man sich bei diesem Trainer leihen kann, welche Kraft.

„Es geht doch immer um mehr als nur um Fußball. Es geht nicht nur um den richtigen Pass. Es geht darum, dass man Freude und etwas zu sagen hat. Der Fußball ist doch nur der Bereich, in dem wir uns ausdrücken.“

Fußball ist für Freiburgs Trainer ein Schachspiel mit lebenden Figuren

Kein anderer Trainer in der Bundesliga redet so, kein anderer denkt so. Vielleicht deshalb, weil sein Lebensweg nicht weniger gewunden war, als es seine Denkfiguren sind. Es ging ja nicht geradeaus von der Metzgerei im Südbadischen bis auf den Trainerstuhl. Hauptschule, Industriekaufmann, dann Fußballprofi in Freiburg, Stuttgart, Homburg. Danach zweiter Bildungsweg. Er muss als spätberufener Abiturient dem Christian Streich von heute schon recht ähnlich gewesen sein. Seine Deutschlehrerin von damals, 20 Jahre ist das her, weiß es noch genau. „Der Christian“, sagt sie, sei immer freundlich, aber immer unangepasst gewesen. „Er konnte unkonventionelle Fragen stellen, ließ sich niemals vereinnahmen oder beeindrucken.“

Er hat dann in Freiburg studiert, Germanistik, Geschichte, Sport. Und es war vor allem das Geschichtsstudium, das ihn bewegte, Spezialgebiet: Nationalsozialismus und andere totalitäre Systeme. „Ich wollte immer wissen: Was trieb die Menschen an, wofür waren sie anfällig? Und wovor müssen wir aufpassen?“

Und dann spricht er über die Germanistik und über das Buch, das er gerade liest: „Der Tunnel“ des Amerikaners William H. Gass, mehr als 1000 Seiten, schwere Kost. Aber um Himmels willen, entfährt es ihm da, und er muss gleich wieder den doppelten Streich herauskehren, um Himmels willen, „ein Intellektueller bin ich nicht“. Zum Lesen sei er eigentlich nur gekommen, „weil ich nicht so gut Motorräder reparieren konnte wie andere“.

Dafür scheint er etwas anderes besonders gut zu können. 17 Jahre ist Streich schon beim SC Freiburg, hat jahrelang den größten Vereinsstolz, das Fußballinternat, geleitet. Und er hat nicht nur jetzt in der Bundesliga eine unglaubliche Erfolgsserie hingelegt, sondern wurde in den vergangenen Jahren mit der A-Jugend drei Mal Deutscher Pokalsieger, ein Mal Deutscher Meister, und jetzt steht die Freiburg-Jugend schon wieder im Pokalfinale, am 12. Mai in Berlin. So etwas ist kein Zufall. Irgendein Geheimnis wird dieser Mann, den vor ein paar Wochen kaum jemand kannte, also haben müssen.

Es sind zwei Geheimnisse, sagt einer, der ihn gut kennt, der ihm in all den 17 Jahren nahe gewesen ist. Erstens sei Streich vollkommen unfähig zu lügen. Diese Ehrlichkeit erklärt zweierlei: dass die Spieler ihm vertrauen wie keinem anderen. Weil sie wissen, der verstellt sich nicht. Genau das ist aber auch der Grund für seine manchmal so kuriosen öffentlichen Auftritte. Streich ist einfach nicht in der Lage, jene stereotypen Sprachungeheuer in die Welt zu lassen, wie das fast alle in diesem Gewerbe vor den Mikrofonen tun. Er sucht nach anderen, richtigeren Worten. Darum kramt er oft so lange in seinem Kopf, bis er endlich die Formulierung hat, die er will.

Sein zweites Geheimnis, sagt der Bekannte, und jetzt verwendet er das Wort „Genie“, sei Streichs Fußballverstand. Wie der ein Spiel begreift, das habe er noch nie zuvor bei einem Trainer erlebt. Wenn zum Beispiel beim Angriff seiner Mannschaft im Sturm etwas besonders Schönes geschehe, ein gelungene Kombination, dann könne es sein, dass dieser Trainer genau in diesem Augenblick der fußballerischen Schönheit einen Wutanfall bekomme. Weil er nämlich entdeckt habe, dass ganz hinten in der Abwehr, 70 Meter vom Sturmgeschehen entfernt, einer seiner Verteidiger nicht auf der richtigen Position stehe. Wenn da jetzt der Gegner käme und den Ball eroberte und schnell nach vorne spielte . . . Fußball ist für Streich ein Schachspiel mit lebenden Figuren, die in jeder Sekunde ihre Stellung wechseln.

In Freiburg, in diesen Frühlingstagen, haben die Fußballfreunde ein Déjà-vu-Erlebnis. Eine Stimmung ist wiedergekehrt, die es schon einmal gab, lang ist das her. Damals, vor 19 Jahren, als der unbekannte Trainer Volker Finke mit dem unbekannten Verein SC Freiburg unversehens in die Bundesliga aufstieg und die Zeitungen aus dem Staunen gar nicht mehr herauskamen: „Breisgau-Brasilianer“, der etwas andere Öko-Verein mit dem Solardach auf der Tribüne, die Low-Budget-Mannschaft ohne einen einzigen Star.

Aber bekanntlich steckt in Klischees auch immer ein Stück Wahrheit. In der Tat ist das auch heute wieder eine Fußballelf der Namenlosen. In der Tat versucht der Verein, seinen Spielern zu vermitteln, dass es auch jenseits des Fußballs noch etwas gibt. Werte, Anstand. Respekt. Die Gemeinschaft, pflegt Streich zu sagen, ist „das Heilige“. Wenn Zuschauer auf den Rängen Feuerwerkskörper abbrennen, rennt er empört auf sie zu und versucht, sie davon abzubringen. Wenn Fans den gegnerischen Trainer beschimpfen, regt er sich auf: „Kein Mensch soll den anderen verhöhnen.“ Und dann raucht dieser Mann wie einst Volker Finke auch noch selbst gedrehte Zigaretten.

Und hat nun seinen Traumberuf gefunden. Ach was, gleich meldet sich Streichs Eigensinnigkeit wieder, einen Traumberuf gibt es nicht. „Weil das was mit Traum zu tun hat, der Beruf ist aber Realität. Und die ist nicht immer traumhaft.“

Na gut, aber ein Traum, was wäre der ganz große Traum des Christian Streich? Jetzt ist wieder Nachdenkzeit. Dann sagt er: „Einfach den Rucksack nehmen. Auf Wanderschaft gehen. Ganz ohne Ziel. Loslaufen. Schauen.“

Ganz wie beim SC Freiburg eigentlich. Loslaufen. Schauen, was geschieht.

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