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carlos

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Hintergrund: Spanien: Mit wenig Herz und viel Verstand

Berechnend, leidenschaftslos, aber erfolgreich - Spanien hat nach 24 Jahren mal wieder ein Halbfinale erreicht und damit viel für die nationale Identität getan.

Der oberste Fan kam kurz nach Mitternacht. Er stieg die Treppen hinab von der Ehrentribüne bis tief in die Katakomben des Ernst-Happel-Stadions, vorbei an den Security-Männern, die ehrfürchtig grüßten, und weiter, immer weiter bis in die Räumlichkeiten, in denen zwei Dutzend junge Männer sangen und tanzten. Der oberste Fan ließ sie feiern und schritt hinüber zu ihrem Chef, Luis Aragonés, dem Trainer der spanischen Nationalmannschaft. König Juan Carlos breitete beide Arme aus, er drückte Aragonés an sich und wollte ihn gar nicht mehr loslassen.

Oft wird sich der König für den alten Zausel geschämt haben, wenn dieser mal wieder Ausländer beleidigt oder sonst welchen Blödsinn erzählt hatte. In dieser Nacht von Wien aber, einen Monat vor seinem 70. Geburtstag, war Luis Aragonés ein Held. Endlich einmal steht Spanien im Halbfinale eines großen Turniers! Das erste Mal seit 24 Jahren! Und das im Nervenspiel des Elfmeterschießens, 4:2 gegen den Weltmeister Italien. „Wir haben den Fluch besiegt!“, formulierte Juan Carlos und schwärmte von einem Spiel „voller Genugtuung und Leidenschaft“.

Das mit der Genugtuung versteht sich nach der spanischen Leidensgeschichte von selbst. Wann immer Europa oder die Welt ihren Meister ausspielen, gehört Spanien zu den Favoriten. Und scheitert mit unschöner Regelmäßigkeit spätestens im Viertelfinale, was ebenso regelmäßig das Lamento nach sich zieht, dass Spanien zwar die beste Liga der Welt habe, aber keine gute Nationalmannschaft, weil Spanien eben keine Nation sei, sondern ein Zweckverbund egoistischer Subnationen. Die Kastilier, Katalanen und Andalusier tun dann immer so, als sei ihnen die Nationalmannschaft gleichgültig und der Klub daheim in Madrid, Barcelona oder Sevilla ohnehin viel wichtiger. In der Nacht zum Montag aber feierten die Aficionados zwischen Stephansplatz und Donaukanal mit einer Begeisterung, die dicht an die türkischen Hupkonzerte heranreichte. Und „Marca“, die täglich erscheinende Sportzeitung, vermeldete die „Teufelsaustreibung von Wien“.

Es vertrug sich diese Ausgelassenheit allerdings kaum mit dem sportlichen Teil der Nacht. Wo, bitte schön, hatte der König Leidenschaft ausgemacht in diesen faden 120 Minuten? Bestenfalls in der Jubelarie nach dem entscheidenden Elfmeter, Cesc Fàbregas verwandelte ihn, kühl bis ans Herz. Selten hat man die Spanier so berechnend, so taktierend, ja so leidenschaftslos gesehen. Oder, positiver formuliert: Dieses Mal spielen sie nicht nur mit dem Herz, sondern mit dem Kopf. Bei der WM vor zwei Jahren waren sie nach brillanter Vorrunde als haushoher Favorit in das Achtelfinale gegen die kriselnden Franzosen gegangen und von diesen eiskalt ausgekontert worden. Die Parallele zum Viertelfinale gegen die gealterten Weltmeister ließ sich schwer aus den Köpfen der Spieler verdrängen. Dass sie sich dennoch nicht zu einem Sturmlauf verleiten ließen, verdient Respekt. Schön anzuschauen war es nicht.

Iker Casillas fand eine gute Formulierung für die spanische Zerrissenheit zwischen dem natürlichen Verlangen nach attraktivem Fußball und der aus der Erfahrung geborenen Vorsicht, nicht schon wieder in eine Falle zu laufen: „Obwohl wir diesen inneren Krieg gegen den Fluch geführt haben, haben wir ihn in der Lotterie des Elfmeterschießens besiegt.“ Der Torwart von Real Madrid war daran nicht unbeteiligt. Er hielt die italienischen Elfmeter von De Rossi und Di Natale. Ausgerechnet Casillas, den sie daheim zwar für den besten Torwart der Welt halten, aber eben nur mittelmäßig begabt für das Duell eins gegen eins zwischen Kreidepunkt und Kreidestrich. Casillas erzählte spät in der Nacht die Geschichte von seinem letzten Elfmeterschießen. 2002 im WM-Viertelfinale gegen Südkorea war das, und Casillas ließ sich bezwingen von allen fünf Schützen, deren Namen damals keiner kannte und heute keiner kennt. Bescheiden verschwieg er Teil eins der Geschichte: Spanien wäre gar nicht erst ins Elfmeterschießen gekommen, hätte er nicht zuvor gegen Irland einen Elfmeter in der regulären Spielzeit gehalten und später noch zwei im Entscheidungsschießen. Als Casillas zurück in die Kabine ging zu König und Kollegen, grölten im Hintergrund seine Landsleute. In dieser Nacht waren sie nicht Kastilier, Katalanen und Andalusier, sondern alle Spanier. Sie sangen „Que viva España!“, ein Lied, das angeblich nur Touristen singen, bei dieser EM aber Spaniens inoffizielle Nationalhymne ist, die offizielle hat ja keinen Text. Die nächste Party ist für Donnerstag eingeplant. Zum Halbfinale gegen Russland. Der König will wiederkommen.

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