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© Snaps

Holstein Kiel: Andreas Thom: Stürmer auf See

Andreas Thom hat Hertha vorgemacht, wie man die Champions League erreicht – nun hat er bei Holstein Kiel eine kleinere Fußball-Heimat gefunden.

Champions League? Schöne Sache, sagt Andreas Thom und dass er Hertha alles Gute wünscht, ist ja irgendwie immer noch sein Verein. Von einer großen Überraschung mag er nicht sprechen, „dafür kenne ich den Fußball zu gut. Können Sie sich noch an 1999 erinnern? Uns hat damals auch keiner was zugetraut, dann sind wir Dritter geworden.“

Zehn Jahre ist das jetzt her, dass Hertha BSC ein erstes Mal schaffte, was jetzt zur Wiedervorlage ansteht. Die Qualifikation zur Champions League. Aus der Mannschaft von damals ist nur noch Pal Dardai dabei. Christian Fiedler soll zur kommenden Saison Torwarttrainer werden, Michael Preetz, 1999 mit 23 Treffern Bundesliga-Torschützenkönig, leitet heute Herthas Lizenzspielerabteilung, Verteidiger Hendrik Herzog dient dem Verein als Zeugwart. Und Andreas Thom? Ist weit weg. In Kiel. Und mit Hertha hat er nur noch als Gegner zu tun.

Am 30. Spieltag der Regionalliga Nord empfängt Holstein Kiel die zweite Mannschaft von Hertha. Der einstige Stürmer und Mittelfeldspieler (eigentlich spielte Andreas Thom ja überall) trägt einen dunkelblauen Trainingsanzug, die Großbuchstaben „CO“ links auf der Brust weisen ihn als Kotrainer aus. Freundschaftliche Begrüßung mit dem Gegner, man kennt sich. Zehn Jahre hat Thom für Hertha gearbeitet, zu Beginn dieses Jahres ist er nach Kiel gezogen. Ein neuer Job in einer neuen Stadt. Wieder zusammen mit Falko Götz. Dem Mann, der immer irgendwie dabei war, wenn es ernst wurde für Andreas Thom.

1983, als Götz sich mit seinem Mannschaftskameraden Dirk Schlegel in Belgrad vom DDR-Meister BFC Dynamo absetzte, kam Thom als 18-Jähriger zu seinem ersten Europapokalspiel. Sechs Jahre später fiel die Mauer, Thom wechselte nach Leverkusen, und das erste Bier in der neuen Heimat trank er mit Falko Götz. Ende der Neunziger trafen sie sich in Berlin wieder. Thom als Spieler, Götz als Amateurtrainer. Von 2004 bis 2007 betreuten sie Hertha in der Bundesliga.

Im April 2007 war Schluss. Fast zwei Jahre lang hat Thom zu Hause gesessen und auf einen neuen Job gewartet. Der einstige Publikumsliebling AndyAndyAndyAndyThooom! war bei Hertha nicht mal mehr als Jugendtrainer gefragt. Thom mag nicht reden über diese Zeit, „das ist lange vorbei, es war eine schöne Phase in meinem Leben“, aber man darf wohl davon ausgehen, dass Verwundungen zurückgeblieben sind. Gibt es noch Kontakt nach Berlin? „Ich kenne noch genügend Leute“, sagt Thom, „aber wir reden nicht über Fußball, es gibt ja noch ein bisschen was anderes im Leben.“

Vom Berliner Olympiastadion bis ins Holstein-Stadion in Kiel-Projensdorf ist es ein weiter Weg. Nicht nur geografisch gesehen. Das Kieler Stadion ist eines der ältesten Deutschlands, 1911 gebaut, ein Jahr später wurde Holstein Deutscher Meister. Die Gegenwart spielt sich in der Viertklassigkeit ab. „Damit hatte ich überhaupt kein Problem“, sagt Thom, „der Arbeitsmarkt für Fußballtrainer ist nun mal begrenzt.“ Aber auch bei Holstein trainieren sie zweimal am Tag. Holstein will, muss aufsteigen.

Am vergangenen Mittwoch hat die Stadt Kiel beschlossen, das alte Stadion mit Millionenaufwand zu sanieren. In seinem jetzigen Zustand würde es der DFB nicht für die Dritte Liga zulassen, und bei Holstein hatten sie schon befürchtet, sie müssten im Falle eines Aufstieges an die Lohmühle nach Lübeck ausweichen. Aber es sind gute Tage für den Fußball in Kiel, was auch damit zusammenhängt, dass es eher schlechte Tage für den Handball sind. Die Manipulationsaffäre um den Deutschen Meister THW Kiel lässt den Regionalliga-Spitzenreiter Holstein auf ein wenig mehr öffentliche Beachtung hoffen.

Dem Spiel gegen Hertha II widmen die „Kieler Nachrichten“ eine ganze Seite, es kommen fast 5000 Zuschauer ins Stadion. Schleswig-Holstein ist neben dem Saarland das einzige alte Bundesland ohne einen Klub in der Fußball-Bundesliga oder der Zweiten Liga. Im Stadionprogramm antwortet ein Fan auf die Frage nach seinem schönsten Erlebnis als Holstein-Fan: der Sieg 1979 in der Zweitligaaufstiegsrunde gegen Wacker 04.

Von der Zweiten Liga mag Thom noch nicht reden, „wichtig ist, dass wir unser Ziel in dieser Saison erreichen, und da haben wir noch einiges zu tun“. Beim Spiel gegen Hertha sitzt er neben Götz. Dieser springt alle paar Minuten auf und gestikuliert wie wild an der Seitenlinie, bei technischen Fehlern wendet er sich kopfschüttelnd ab. Thom bleibt regungslos sitzen. Die zweite Halbzeit läuft gerade eine Minute, da schafft Hertha mit dem ersten richtigen Torschuss durch Ibrahima Traoré das 1:0. Holstein antwortet mit wütenden Angriffen. Herthas Lennart Hartmann nimmt auf der Torlinie die Hand zur Hilfe und fliegt dafür vom Platz. Den fälligen Elfmeter schießt der Kieler Michael Holt vorbei, und jetzt krümmt sich auch Thom vor innerem Schmerz auf der Bank.

Im September wird er 44 Jahre alt. Am Ball macht ihm im Training keiner etwas vor. Bis er nach Kiel kam, hat er Fußball immer auf höchstem Niveau erlebt. In Berlin, Leverkusen und Glasgow. „Von der Arbeit her macht das keinen Unterschied, ob man in der vierten Liga oder in der Bundesliga trainiert“, sagt Thom, aber das individuelle Niveau ist natürlich unterschiedlich. Mit jeder Flanke hinter das Tor und jedem missglückten Dribbling sinkt der Kieler Kotrainer ein bisschen mehr in sich zusammen.

Der Elfmeter-Fehlschütze wird ausgewechselt, Holstein drückt, und dann fällt doch noch der Ausgleich. Der Schütze heißt Marco Stier, Götz und Thom haben ihn im Januar von Bayern München geholt. Aus der zweiten Mannschaft. Es bleibt beim 1:1 – zu wenig für einen Aufstiegsaspiranten. Der Konkurrent aus Halle hat nach Punkten gleichgezogen, nur die bessere Tordifferenz hält Holstein auf Platz eins.

Andreas Thom plaudert noch ein bisschen mit den alten Bekannten, „wäre ganz schön, wenn ihr nächste Woche gegen Halle gewinnt“. Dann schultert er seine Tasche und macht sich auf den Weg. Vor dem Stadion stehen ein paar Fans, einer ruft: „Hey Andy, willst du nächstes Mal nicht mitspielen?“

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