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Erfolgreicher Gegenangriff. Halil Dincdag (hier in der Innenstadt von Istanbul) wehrt sich gegen Diskriminierung und erfährt von Betroffenen unerwartet viel Zuspruch

© AFP

Homosexualität im Fußball: Revolutionär im Schiedsrichter-Trikot

Manchmal fühlt er sich geächtet, manchmal ist er verzweifelt. Der Unparteiische Halil Dincdag ist schwul. Im Macho-Land Türkei leitet er eine Debatte über mehr Toleranz ein.

Es gibt Tage im neuen Leben von Halil Ibrahim Dincdag, da möchte er nur noch verzweifeln. Der 35-Jährige ist arbeitslos, er hat viele Freunde verloren, und potenzielle Arbeitgeber lassen durchblicken, dass sie einen wie ihn nicht gebrauchen können. Denn Dincdag ist homosexuell – und jeder Sportfan in der Türkei weiß das: Die Presse nennt ihn den „schwulen Schiedsrichter“. Vor zwei Jahren wurde Dincdag vom türkischen Fußballverband wegen seiner Homosexualität gefeuert, ein bekannter Sportkommentator fragte öffentlich: „Würde der wohl einen Elfmeter gegen einen hübschen Spieler geben?“ Aber Dincdag gibt nicht auf. Er prozessiert gegen den Verband – und er hat einen Traum: „Eines Tages werde ich Fifa-Spiele pfeifen.“ Die Fifa ist der Fußball-Weltverband.

Dincdags altes Leben endete vor fast genau zwei Jahren. Damals arbeitete er glücklich und zufrieden als Radiomoderator und pfiff nebenher Amateur-Spiele in seiner Heimatregion in Trabzon am Schwarzen Meer. Bis zum Mai 2009, als der Verband eine Verlängerung seiner Lizenz als Schiedsrichter ablehnte. Dincdag war geschockt.

Warum er nicht mehr gewollt war, stellte sich bald heraus. Kurz zuvor hatte die türkische Armee ihn ausgemustert: Homosexualität gilt bei den Militärs als „psycho-sexuelle Störung“. Im Macho-Land Türkei wird Homosexualität auch außerhalb der Armee noch vielfach als Schande und widernatürliches Phänomen gesehen. Erst kürzlich sagte Familienministerin Selma Aliye Kavaf, Homosexualität sei eine „Krankheit“. Lesben- und Schwulenvereine werden regelmäßig von den Behörden verboten.

Dincdag besorgte sich einen ärztlichen Nachweis dafür, dass seine Ausmusterung nicht auf körperliche Gebrechen zurückzuführen war, die ihn daran hindern könnten, als Schiedsrichter zu arbeiten. Der Verband blieb bei seiner Entscheidung und ließ – so Dincdags feste Überzeugung – seinen Namen an die Presse durchsickern. Er zog nach Istanbul, um seiner Familie den unausweichlichen Medienrummel zu ersparen.

Seitdem schlägt er sich mehr schlecht als recht durch, er fühlt sich geächtet. „Früher hatte ich viele Freunde und Bekannte.“ Nur wenige sind ihm geblieben. Sogar Morddrohungen hat er erhalten. Auf die Frage eines türkischen Reporters, wie sich sein Leben verändert habe, sagte er vor kurzem: „Es ist alles aus.“

Nur manchmal gibt es Lichtblicke in Dincdags neuem Leben. So erlebte er zu seiner großen Überraschung, dass seine fromm-muslimische Familie zu ihm hielt. Er hatte seine Homosexualität selbst seinen Eltern verschwiegen. Doch die sagten eines Tages: „Du bist doch unser Kind.“ Seine besonders fromme Schwester, eine Theologin, versichert ihm, Allah habe nichts gegen ihn. Nur Mord sei unverzeihlich. Überweisungen seiner Familie aus Trabzon sind heute seine einzige stete Einnahmequelle.

Seinen Prozess gegen den Fußballverband treibt er trotz alledem voran. Die Funktionäre hätten wohl gedacht, er werde sich in eine Ecke verkriechen, sagt Dincdag. Doch der Schiedsrichter pfiff auf den Verband und ging in den Medien und vor Gericht in die Gegenoffensive; in dem Prozess geht es um Wiedereinstellung und Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt rund 50 000 Euro. Als Sportkommentator Erman Toruglu den Satz mit dem Elfmeter und dem hübschen Fußballspieler von sich gab, ließ Dincdags Antwort nicht auf sich warten: „Fällt der etwa jede Frau auf der Straße an?“ Toruglu war not amused.

Aus Furcht vor schlechter Presse revidierte der Fußballverband inzwischen still und leise seine Schwulen-Politik. Vor kurzem erhielt Dincdag Anrufe von einer lesbischen Trainerin und einem schwulen Trainer, die ihm danken wollten – sie hatten plötzlich vom Fußballverband ihre lange verweigerten Trainerlizenzen erhalten.

Auch einer Neuanmeldung Dincdags stehe nichts im Wege, versicherte der Verband. Doch der Schiedsrichter ist misstrauisch. Er hat sich um eine Neuzulassung für die Amateur-Klasse beworben, eine Entscheidung erwartet er im Mai. „Doch selbst wenn sie mir die Zulassung geben, glaube ich nicht, dass sie mich wieder aufs Feld lassen.“ Wenn nötig, will er wegen Diskriminierung bis vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg ziehen.

Unterdessen denkt Dincdag über eine Auswanderung nach Deutschland oder in ein anderes westeuropäisches Land nach. Sollte daraus nichts werden, will er in der Türkei weiterkämpfen. Ganz nebenbei bemerkte Dincdag, dass dieser Kampf auch für andere wichtig sein könnte. „Wenn ich meinen Prozess gewinne, wird man anderen Homosexuellen ihre Rechte nicht mehr ganz so einfach wegnehmen können“, sagte er kürzlich mit einigem Stolz. Lange sei es ihm nicht bewusst gewesen, aber: „Ich habe eine Revolution begonnen.“

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