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Englische Fans am Alten Hafen in Marseille.

© dpa

Hooligans in Marseille: Wie die Gewalt bei der EM eskaliert ist

In Marseille sind russische und englische Hooligans mit großer Brutalität aufeinander losgegangen. Die Polizei tat offenbar wenig, um dem vorzubeugen. Eine Reportage.

Langsam wabert die Tränengaswolke durch die Straßen von Marseille. Kämpft sich durch die Gassen und lässt Gäste und Einheimische laufen und heulen. Selbst in entfernteren Cafés schmeckt noch der Kaffee danach.
Drei Tage lang ist es in Marseille nun schon zu Auseinandersetzungen gekommen zwischen russischen und englischen Anhängern sowie der Polizei. Zwischendurch mischten auch Einheimische mit, darunter wohl junge Ultras von Olympique Marseille. Es gibt viele Verletzte, ein Engländer schwebt weiterhin in Lebensgefahr. Die Zerstörungswut hat an vielen Ecken Spuren hinterlassen: zerbrochene Scheiben, zerschlagenes Mobiliar, aber der Schaden hält sich dennoch in Grenzen. Erstaunlich, wenn man die Amateuraufnahmen sieht, in denen die Lager mit zum Teil heftiger Brutalität aufeinander los gehen.

Am Spieltag selbst ist es am frühen Vormittag verhältnismäßig friedlich. Am Alten Hafen, dem zentralen Treffpunkt für Fans und Touristen in der Stadt, regieren die Engländer. Viele Tausend sind in der Stadt, einige Hundert haben die Bars am Platz in fester Hand, es wird gesoffen, getanzt und gesungen, Turnieratmosphäre eben. Die Gewalt lässt sich nur erahnen, weil eben die Erfahrung zeigt, dass bei so viel Alkohol, Sonne und Fußball irgendwann doch die Fäuste fliegen.

Frankreich wirkt unvorbereitet

Jeff Taylor aus Newcastle ist mit seinen Freunden angereist, der 55-Jährige kann auf eine lange Reiseerfahrung mit den „Three Lions“ zurückblicken. Beim Bier erinnert er sich selig an die WM 2006. „Tolle Organisation, da war man vorbereitet“, an den französischen Verantwortlichen lässt er kein gutes Haar: „Schon die Anreise war katastrophal. Viele Züge sind lange ausgebucht oder fahren nicht.“ In vielerlei Hinsicht habe man das Gefühl, dass Frankreich von diesem Turnier überrumpelt wurde. Sein Freund Tony zeigt auf den größer werdenden Haufen von Glasscherben inmitten der singenden Meute: „2012 in Polen hat man an den zentralen Plätzen Zapfsäulen vor dem Kneipen aufgebaut und in Plastikbechern ausgeschenkt. Nun schau dir das an.“ Später, als die Krawalle wieder abgeebbt sind, wird man viele Menschen mit Schnittwunden sehen.

Weg vom Platz, durch die Straßen. Irgendwann wird es irgendwo lauter, man sieht ein paar Menschen rennen, dann kommt die Tränengaswolke. Etwa 50 Russen sind auf die Engländer losgegangen, die Schlägereien sind kurz, aber sehr heftig. Drei deutsche Fans, die wenige Meter entfernt standen, als die Auseinandersetzungen begannen, berichten vor allem vom aggressiven Eingreifen der Polizei: „Die sind sofort voll drauf gegangen, mit Schlagstöcken, Gummigeschossen und Tränengas.“ Eine Nachricht via WhatsApp: „Wenn ihr zum Hafen wollt: Bringt Gasmasken mit. Und Helme.“

Jagd auf Engländer

So schnell die Gewalt explodiert, so schnell geht sie auch wieder vorbei. Wie kleine Wirbelstürme zieht sie durch die Straßen, es ist nicht ganz klar, wer nun wen angegriffen hat. Die potentiellen Feindbilder waren schon im Vorfeld vielfältig. Engländer gegen Russen, Engländer und Russen gemeinsam gegen die Muslime der Stadt – das „Schwein von Marseille“, James Shayler, ein bekannter englischer Hooligan, hatte dazu aufgerufen, durfte aber letztlich nicht ausreisen. Dazu einheimische Ultras gegen die Gäste-Fans. Der Verein Olympique Marseille hat viele Ultra-Gruppen, einige hatten noch vor dem Turnier angekündigt, Jagd auf die Engländer zu machen – auch als Rache für die Krawalle bei der WM 1998, als ebenfalls die Briten in Marseille im Zentrum der Gewalt standen.

Bis zum frühen Abend bleibt es wieder friedlich, bis es dann erneut eskaliert. Wieder fliegen Flaschen und Bengalos, schlagen die Gruppen aufeinander ein. Als es sich eine Stunde später beruhigt hat, sieht der Platz am Alten Hafen aus wie ein Sperrgebiet. Überall Polizisten, in Uniform und Zivil, Abendsonne und Blaulicht mischen sich zu einem kuriosen Farbenspiel. Ein Sprecher der Polizei sagt: „Es waren wieder Russen, die auf Engländer los sind. Die Lage war aber schnell wieder unter Kontrolle.“ Ja, man habe mit der Gewalt gerechnet, sagt der Mann, entsprechend vorbereitet sei man gewesen. Und doch bleibt der Eindruck bestehen, dass die französischen Verantwortlichen ihre Energie eher in die Bekämpfung der bereits entstandenen Gewalt investieren als in die Prävention.

Lasche Einlasskontrollen

Vielleicht hat das auch mit Marseille zu tun, dieser aufregenden Multi-Kulti-Stadt, in der der Gewalt mit einer Lässigkeit begegnet wird, die man sich in einer deutschen Großstadt nicht vorstellen könnte. Später beim Spiel berichtet Jean, ein Barkeeper am Alten Hafen, dass man bereits am frühen Abend den Laden geschlossen und verbarrikadiert habe. „Aber das ist Marseille und das ist Fußball“, sagt er und lacht.

Rund um das Stadion bleibt es vor dem Spiel weitgehend ruhig, obwohl dort die unterschiedlichen Fangruppen ebenfalls aufeinander treffen. Hier sind nur vereinzelten Schubsereien zu sehen, auf der anderen Seite gibt es sogar Verbrüderungsszenen von Engländern und Russen.

Einzig ein Engländer geht auf Sicherheitspersonal los – er ist in Rage ob der dürftigen Informations- und Kommunikationslage. Tatsächlich kennen sich viele Ordner im Stadion überhaupt nicht aus und sprechen kein Wort Englisch. Die Einlasskontrollen wirken an einigen Eingängen nicht strenger oder laxer als in der Bundesliga. Rund um das Stadion und am alten Hafen gibt es kein Glasflaschenverbot. Das war bei vorangegangenen Turnieren noch anders. Gerade bei diesem Risikospiel ist das unverständlich.

Russen schlagen wehrlos ein auf am Boden liegende Fans

Im Stadion selbst schießen die Russen kurz vor Ende der Partie und nach dem Abpfiff zwei Leuchtraketen ab, eine fliegt in Richtung der Tribüne rechts des Blocks, die andere aufs Spielfeld. Als dann russische Fans zu den englischen durchbrechen, ereignen sich regelrechte Jagdszenen. Eine Provokation der Engländer war nicht zu sehen, auf den Plätzen neben dem russischen Block befanden sich eher gemäßigte Fans. Die Russen schlagen wahllos ein, auch auf auf dem Boden liegende Fans. Die Ordner sind überfordert von der schieren Masse, einige stellen sich tatsächlich mutig vor den Mob und versuchen in Unterzahl, die Hooligans aufzuhalten. Doch der brutale Angriff ist da eigentlich nur noch von der Polizei aufzuhalten, die jedoch auch rund um das Stadion nicht übermäßig präsent ist. Die Blöcke sind nicht ausreichend voneinander getrennt.

Zurück bleiben viele Fragen

Am Alten Hafen herrscht nach dem Spiel eine angespannte Atmosphäre. Die Polizei ist überall, nach und nach tauchen dann die potentielle Kontrahenten auf wie Boxer, die langsam auf den Ring zustapfen. Die einheimischen Jugendlichen, viele arabischer Herkunft, scannen den Platz ab, erste Gruppen Engländer und Russen kommen vom Stadion zurück. Lange passiert nichts, dann, nach Mitternacht, setzt die Polizei wieder Tränengas ein und räumt den Platz. Warum genau ist zunächst nicht ersichtlich.

Ein verletzter Mann wird von der Polizei nach den Ausschreitungen festgenommen.
Ein verletzter Mann wird von der Polizei nach den Ausschreitungen festgenommen.

© AFP

Am Sonntag ziehen die Russen und Engländer weiter. Zurück bleiben viele Fragen. Hätte sich die Stadt besser auf die Fans vorbereiten müssen? Oder war die Gewalt einfach nicht zu verhindern, wenn zwei bekannt gewaltbereite Fangruppen in einer gewaltaffinen Stadt aufeinander treffen? Wie sehr wirkte das Vorgehen der Sicherheitskräfte als Brandbeschleuniger?

Und vor allem: War das nun der Anfang oder schon der Höhepunkt der Randale in Frankreich? Die Europameisterschaft 2016 bleibt spannend. In vielerlei Hinsicht.

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