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Sport: „Ich träume vom Untergehen“

Antje Buschschulte schwimmt und erforscht das Gehirn – ein Gespräch über Ängste in der Nacht und Schwerelosigkeit am Tag

Frau Buschschulte, was haben Sie heute Nacht geträumt?

Keine Ahnung. Ich weiß, da war irgendwas.

Sie können sich nicht erinnern?

Manchmal schon. Wenn mich früh der Wecker rausreißt, weil ich Training habe, fühle ich den Traum noch. Meist habe ich etwas vom letzten Tag durchmischt mit anderen Sachen. Das kann man gar nicht erzählen.

Versuchen Sie es mal.

Vor ein paar Tagen, warten Sie, das ging so: Ich bin beim Wettkampf und unterhalte mich mit den Leuten und denke, du musst zum Start. Da sehe ich, dass die anderen ins Wasser springen. Dann bin ich aufgewacht.

Oje.

Das war ein Angsttraum. Es gibt nichts Schlimmeres, als sein Rennen zu verpennen.

Ist das schon in der Wirklichkeit passiert?

Ja. Als Kind, bei den norddeutschen Meisterschaften, sagte mein Vater zu mir: Du hast Zeit. Ich sah rüber, und alle waren im Becken.

Frau Buschschulte, wir wollen heute über Träume reden. Träumen Sie eher von guten oder von schlimmen Dingen?

Vom Fliegen. Da hebe ich ab, huiii.

Da heben Sie ab?

Klar. Ich weiß noch, wie ich mir, da war ich sechs Jahre alt, eine Pappkiste gebaut habe, unten mit Löchern und an der Seite mit Flügeln. In der Sesamstraße hatten die das vorgemacht. Ich stand auf dem Gartentisch und dachte, juhu, ich fliege. Und hopps, runter.

Das haben Sie geträumt?

Nein, das war echt. Aber abends habe ich geträumt, dass ich mit meiner Pappkiste über die Stadt fliege. Bis zur Schule bin ich geschwebt, dort durch die Tür. Ich wäre mit dem Kopf fast an den Türrahmen gestoßen.

Das ist ja Wahnsinn.

Träume sind Wahnsinn. Jeder Mensch hat in seinem Leben 150 000 Träume. Genauer gesagt, 150 000 Rem-Schlafphasen.

Was sind Rem-Phasen?

Rapid eye movement. Schnelle Augenbewegung. Wo du hinsiehst im Traum, geht auch das Auge hin. Wie beim Rausgucken im Zug.

Sie wissen ja, wie ein Traum funktioniert.

Ein bisschen, ich studiere Biologie und beschäftige mich seit einem Jahr mit Gehirnforschung. Es gibt Schlafphasen, da würfelt das Gehirn alles zusammen: Emotionen, Erlebnisse. Da ist der Thalamus nicht richtig aktiv.

Der Thalamus?

Das ist eine Gehirnregion, eine Schaltzentrale für Informationen. Wenn die nicht so aktiv ist, fehlen dir Filter, die du bei Bewusstsein hast. Filter, die Musik als Musik zuordnen, die Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden. Im Traum gerät das durcheinander.

Wie lang ist ein Traum? Zwei Sekunden?

Viel länger. Das kann drei Stunden dauern.

An drei Stunden kann sich niemand erinnern.

Aber an den Schluss. Denken Sie an das Erlebnis, dass der Wecker klingelt, und im Traum klingelt auch der Wecker. Unser Gehirn ist so kreativ, dass es den Reiz sofort einbaut.

Und das studieren Sie?

Ich lerne Fallbeispiele. Es gibt etwa Epilepsiepatienten, denen die Gehirnhälften durchtrennt wurden. Wenn du denen auf einem Auge ein paar Wolken zeigst, auf dem anderen eine Kratzbürste, einen Kratzer, würden normale Menschen kombinieren: Wolken und Kratzer ist Wolkenkratzer, ein Hochhaus. Aber die kriegen das nicht zusammen.

Frau Buschschulte, Sie sind Schwimmerin. Warum studieren Sie so etwas?

Ich möchte Menschen helfen. Ich beschäftige mich auch mit Molekularbiologie, mit Proteinen, die unseren Körper beherrschen. Wer die Abläufe kennt, kann Patienten heilen, die einen biologischen Defekt haben. Manche Menschen wollen ins Weltall. Ich will lieber wissen, wie das Gehirn lernt.

Und wie lernt das Gehirn?

Wie im Sport: durch Training. Wenn Impulse oft durch eine Nervenbahn kommen, verfestigen sich Verbindungen im Gehirn. Ein Beispiel: Zwei Leute sitzen vor einem Computerspiel, einer kennt es, der andere nicht. Bei dem, der es nicht kennt, ist das ganze Gehirn aktiv. Beim Profi ist wenig los. Das Gehirn weiß, was es machen muss, es arbeitet effektiv. Weil es gelernt hat. Übrigens, beim Träumen soll das Gehirn auch lernen.

Wirklich?

Ja, viele Sachen, die man sich aneignet, rauschen im Traum wieder vorbei. Das Gehirn lädt sich auf. Wie eine Festplatte vom Computer, die sich ordnet. Auch wenn vieles nicht erforscht ist: Träume haben einen tieferen Sinn. Tierversuche haben gezeigt: Ratten, die man am Schlafen und Träumen hindert, sterben. Oder Krokodile, die träumen auch.

Frau Buschschulte, sind Sie eine Streberin?

Nein. Wieso?

Weil sie vom effektiven Denken reden.

Schwimmen allein reicht mir nicht. Ich will auch Erkenntnis haben. Ich lerne eben gern.

Menschen, die gern lernen, sind oft unbeliebt.

Ich weiß, dass mir das manche Leute andichten. Wenn man einigen Medien glaubt, soll ich eine Zicke sein, die mit allen Schwimmerinnen Streit hat. Aber das stimmt gar nicht.

Sie gelten als sehr emotional.

Na und? Ich finde es nicht gut, wenn man alles mit sich selbst abmacht. Wenn ich einen Wettkampf gewinne, renne ich jubelnd durch die Halle. Und wenn es schlecht läuft, schmeiße ich Badekappe und Brille in die Ecke. Aber inzwischen sage ich mir: Hör auf, Antje! Was können die anderen dafür?

Verarbeiten Sie Wettkämpfe in Träumen?

Manchmal habe ich im Schlaf einen Wettkampf, da treffe ich alte Schulfreunde. Aber ich habe nie geträumt, dass ich mal gewinne.

Sie holen nachts kein Gold?

Ich träume höchstens vom Untergehen.

Danach wachen Sie auf und gehen trainieren?

Ja, mit einem ohnmächtigen Gefühl. Aber irgendwann schalte ich ab. Ich bin jeden Tag fünf Stunden im Wasser, da passiert nicht viel im Kopf. Da hat mein Gehirn einen Filter.

Was für einen Filter?

Ich schwimme nur. Für Probleme ist keine Zeit. Ich muss in meinen Körper hören, über die Technik nachdenken und weitermachen.

Ihr Gehirn schaltet ab beim Schwimmen?

Ja. Nur wenn ich lange Strecken schwimme, gleiten meine Gedanken ab. Da singe ich Lieder aus dem Radio im Kopf. Das Beste aber ist, wenn ich nichts denke. Wenn alles gut ist, ist es wie im Traum. Das Wasser gleitet an mir vorbei, es ist wie Schwerelosigkeit.

Wie beim Fliegen mit der Pappkiste.

Genau. Wenn ich schwimme, grabe ich mit den Händen im Wasser und schiebe es weg. In dem Moment, in dem es gut läuft, fühle ich mich wie Wasser. Ich schwebe und höre nur ein leises Rauschen. Es ist das schönste Gefühl beim Schwimmen, das ich kenne.

Und danach gehen Sie schlafen, um das Gefühl zu bewahren?

Wenn ich mich verausgabt habe, schlafe ich neun Stunden lang und lasse den Tag fallen. Manchmal zucke ich leider noch so rum.

Sie zucken rum?

Das ist so bei Schwimmerinnen. Der Körper macht noch Bewegungen aus dem Wasser nach, da ruderst du mit den Armen. Eine Kollegin hat mich mal fast erschlagen im Bett.

Das klingt ja gefährlich.

Fieberträume sind gefährlicher. Da hat man Halluzinationen.

Auch das noch.

Kennen Sie das nicht? Wer Fieber hat, träumt nicht in Bildern; das ist erwiesen. Im Fiebertraum sehe ich nur Muster und grelle Farben. Das macht mir Angst. Einmal, im Trainingslager, lagen wir Schwimmerinnen auf Matratzen nebeneinander. Ich hatte mir einen Infekt geholt, bin irgendwann aufgewacht und dachte, meine Bettdecke wäre ein Stein. Ich schrie: Hilfe, ich werde erschlagen! Die anderen haben mich ausgelacht.

Sie haben eher schlechte Träume, oder?

Naja. Es gibt auch schöne. Träume sind etwas Großes, Unerreichbares.

Als sie in diesem Sommer ihre erste Einzelmedaille bei einer Weltmeisterschaft auf der Langstrecke geholt haben, haben Sie geweint und gesagt: Davon habe ich immer geträumt.

Ich habe schon zweimal bei der Kurzbahn-Europameisterschaft gewonnen, aber ich wollte das auch auf der Langbahn schaffen. Träume sind mehr wert, wenn man hart für sie arbeitet. Wenn du mit 14 Jahren bei einer Weltmeisterschaft gewinnst, aber vielleicht gar keine richtige Vorstellung davon hast, was eine WM bedeuten kann, ist es bestimmt nicht so ein schönes Gefühl.

Sie meinen Franziska van Almsick?

Ich meine das allgemein. Aber Franziska hat es sicher nicht leicht. Sie kann keinen Schritt mehr allein tun; und wenn etwas schief läuft, hauen alle drauf. So ist das leider in einer Welt, in der es nur um Show geht.

Ihnen gefällt diese Welt nicht?

Mir gefällt vieles nicht. Es zählt nur das Geld, das ist schlecht. Zu wenige Menschen denken über das Vordergründige hinaus, viele suchen lieber den Superstar . Ich träume oft von einer anderen Welt. Ich lese Harry Potter, da gibt es mystische Schlösser und Burgen.

Da sind wir wieder beim Thema.

Träumen ist nicht so angesagt. Alles ist ein Event, gerade im Sport. Im Sommer war ich mit anderen Sportlern im Club der Besten in Tunesien. An einem Abend gab es ein Buffet und Cocktails, da waren Feuerschlucker und eine Disco und was weiß ich. Am Rand tanzten Bauchtänzerinnen . Aber die hat keiner beachtet. Das lief wie Fernsehen nebenher.

Und Sie haben Angst, dass es Ihnen irgendwann im Wasser genauso geht?

Wenn erst die Geschäftsleute in der ersten Reihe sitzen, Austern schlürfen und über den letzten Geschäftsabschluss sprechen, ist es soweit. Ab und zu schaut dann mal einer auf die Zeittafel und sagt: aha, ein Weltrekord. Macht uns so ein Leben glücklich?

Was macht Sie denn glücklich?

Einfache Dinge. Ich sammle Elefantenfiguren. Solche Tiere sind stark und sozial. Soziales macht Sinn. Und die Wissenschaft.

Machen Medaillen bei Olympia Sinn?

Natürlich will ich im Sommer in Athen ganz oben sein. Es wären meine dritten Olympischen Spiele, und ich möchte eine Einzelmedaille gewinnen. Doch das ist nicht so einfach. Wenn du nicht topfit bist oder mal eine Wende nicht klappt, ist es wie in dem Angsttraum: du schwimmst, versuchst alles, dein Körper tut weh, du kämpfst und rufst dir zu: los, beiß dich durch, weiter, eins, zwei, eins, zwei. Aber die anderen sind schneller.

Haben Sie Angst?

Nein. Ich will in Athen im Ziel anschlagen und denken: Oh Gott, ich träume etwas Wunderbares! Dafür arbeite ich. Auch im Kopf.

Das Gespräch führte Robert Ide.

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