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Sport: Im Windschatten

Wolfgang Lötzsch wollte die Vuelta fahren – doch der Radfahrer geriet ins Visier der Stasi

Chemnitz. Heute beginnt die Vuelta, die Spanien-Rundfahrt. Wolfgang Lötzsch hätte sie gewinnen können. Vor dreißig Jahren. Bevor er zum Staatsfeind wurde.

Tausend Seiten Papier, Formulare, Notizen. Seine Stasi-Akte. Lötzsch hat alles gelesen, alles kopiert. Er weiß, wer ihn bespitzelt hat, warum er zehn Monate im Gefängnis saß und warum nichts geworden ist aus der Karriere als Radrennfahrer. Aber was nützt das, jetzt, wo alles vorbei ist? Die Kopien hat Lötzsch daheim in Chemnitz ins Regal gestellt. Tausend Seiten Verrat, tausend Seiten Lügen. Tausend Seiten Leben.

Lötzsch, 51, steht im Geräteschuppen seines Elternhauses, er ist durchtrainiert, in der Hand hält er einen Schraubenschlüssel. An den Wänden hängen Reifen, Felgen, all die staubigen Siegerkränze, die sie ihm übergeworfen haben. 552 Radrennen hat er in 30 Jahren gewonnen, „trotz alledem“, sagt er.

Das Leben vor der Akte: Lötzsch, 18 Jahre alt, das größte Talent der DDR. Er bewegt sein Rad mit Kraft und Eleganz, mit Leidenschaft, er hat Talent. Er steht im Kader für die Olympischen Spiele in München. Er träumt von den großen Rundfahrten, von der Tour, der Vuelta. Es ist alles gerichtet für eine große Karriere. Doch es kommt anders.

Es ist der Abend nach dem letzten Test in Kreischa, und Lötzsch sitzt im Wagen von Werner Marschner, seinem Trainer beim SC Karl-Marx-Stadt. Marschner schweigt, das ist ungewöhnlich, der Wagen hält am Klubhaus. Drinnen sitzen Leute, sie sagen: „Wolfgang, du wirst nicht nach München fahren.“ Er sei nicht zuverlässig genug. Fluchtgefahr. Lötzsch ist irritiert. Warum ich? Die Akte schweigt dazu. Wurde er denunziert, von den Kollegen? „Die dachten, ich wolle bei der Vorbereitung in Belgien abhauen. Dabei wollte ich nach München, zu Olympia.“ Doch der Verdacht ist da, plötzlich fügt sich eines zum anderen. Dass er nicht in die Partei eingetreten ist, trotz der Direktive: „Nur Genossen fahren nach München.“ Und da ist diese Geschichte mit seinem Cousin Dieter Wiedemann, auch ein Radfahrer. In den Westen abgehauen.

München ist erst der Anfang. Lötzsch darf nicht mehr in der DDR-Nationalmannschaft fahren, die Friedensfahrt ist für ihn gestrichen. Das Talent ist jetzt ein Staatsfeind. Die Akte füllt sich. Fortan fährt er in der Betriebssportgemeinschaft, kein Verein nimmt ihn. Er fährt läppische Rennen in der CSSR und Polen, und er wird beobachtet. Ein Wartburg mit dem immer gleichen Nummernschild folgt ihm. Die Stasi wirbt Informanten an, sie hört seine Wohnung ab, und im Dezember 1976 schlägt sie zu. Zwei Männer holen ihn ab und bringen ihn hinauf zum Kaßberg, der Stasi-Zentrale in Karl-Marx- Stadt.

Sechs Monate sitzt er in Untersuchungshaft, weitere vier hält ihn die Stasi fest. Einzelzelle, acht Quadratmeter. Wegen Staatsverleumdung sei er hier. Lötzsch schweigt und fährt Rad im Kopf. Er macht 3000 Kniebeugen am Tag, 800 Klimmzüge. Nach zehn Monaten gibt die Stasi auf. Sie kriegen ihn nicht klein. Nicht so.

Lötzsch ist jetzt frei, aber ein Gefangener seiner Akte. Die Stasi spinnt ein Netz aus Informanten. Dabei denkt Lötzsch gar nicht an Flucht, nur ans Radfahren. Sie entziehen ihm die Lizenz, er darf drei Jahre lang keine Rennen mehr fahren, nicht mal um den Häuserblock. Die Zeit läuft davon. Lötzsch war ein Talent, nun lassen sie ihn im Betriebssport versauern. Er schreibt Ausreiseanträge, dabei will er gar nicht weg, er will nur wieder fahren.

Eines Tages liegt ein Brief im Postkasten, abgestempelt in Frankfurt am Main. Ein Herr Wegert will sich mit ihm treffen. Lötzsch ist klar, worum es geht. Um Flucht. Wer kann ihm helfen wollen? Rudi Altig vielleicht, der Star aus dem Westen, den hat er mal kennen gelernt. Im Hotel „Unter den Linden“ in Berlin trifft er Wegert. Fluchtpläne? Lötzsch ist schweigsam. Sie trinken Radeberger Export und Herr Wegert steckt ihm einen Fünfzig-Mark-Schein zu. Am nächsten Tag bittet die Stasi zum Gespräch. Lötzsch erzählt von dem Treffen, Test bestanden. Herr Wegert war Spitzel.

Immerhin, er kann wieder fahren und meldet 1983 für „Rund um Berlin“. Ein Prestigerennen, am Start posieren die DDR-Auswahlfahrer mit ihren Rennmaschinen aus dem Westen. Neben ihnen steht Lötzsch von Motor Ascona Karl-Marx-Stadt, „mit meiner alten Gurke“, zusammengeschraubt aus Ersatzteilen, die ihm heimlich zugesteckt wurden. Eigentlich will er nur bei der ersten Sprintankunft vorne dabei sein, dort winkt ein Kofferradio. Doch in Erkner fliegt er mit vier Minuten Vorsprung um die Kurve. An der Straße jubeln die Zuschauer, sie wissen, wer da vorneweg fährt. Die Ovationen tragen ihn und sein Fahrrad, acht Minuten Vorsprung sind es im Ziel. Bundestrainer Lindner muss zum Rapport zu Sportbund-Chef Manfred Ewald. „Ihr fahrt nach Mexiko ins Trainingslager und esst Bananen. Lötzsch sitzt daheim und futtert Butterbrote.“

Dann kommt die Wende, Lötzsch liest die Akten. Manche Namen hat er nie gehört, die, die er kennt, fragt er nach dem Warum. Antworten? Kaum. Das Leben nach der Akte hat er hinbekommen, er arbeitete als Mechaniker beim Team Nürnberger, jetzt beim Team Gerolsteiner. 1995 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen, 6600 Mark gab es als Haftentschädigung. Aber keine Antwort auf seine Fragen. Lötzsch hätte die Vuelta gewinnen können. Vor dreißig Jahren. Bevor er zum Staatsfeind wurde.

Phillip Köster

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