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Wer taugt zum Vorbild? Boris Becker nur bedingt.

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Interview mit Philosoph Gebauer: "Der Sport hat jede Vorbildwirkung verloren"

Es gibt im Spitzensport keine Vorbilder mehr, sagt der Philosoph Gunter Gebauer im Interview mit dem Tagesspiegel und erklärt, warum er enttäuscht ist von Athleten wie Jan Ullrich, Boris Becker oder Armin Hary.

Herr Gebauer, haben Sie ein Vorbild im Sport?

Als Studentensportler in den sechziger Jahren habe ich mich schon an einigen orientiert. Einer war mein Lehrer, Hans Lenk, Goldmedaillengewinner bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom im Rudern und dann Philosophieprofessor.

Was war das Vorbildhafte dieser Leute für Sie?

Neben großem sportlichen Erfolg vor allem ihr Auftreten, eine untadelige Persönlichkeit, vorbildlich auch im menschlichen Miteinander. Und neben Erfolg im Sport auch wissenschaftliche Leistungen. Das war mir wichtig.

Sind Sie mal von einem Vorbild enttäuscht worden?

Ja, reihenweise. Vielleicht nicht von Vorbildern, aber von Idolen, die ich für vorbildlich gehalten habe. Jan Ullrich zum Beispiel. Der war unerhört erfolgreich und gleichzeitig eine herzige Figur. Sein sportliches Ende fand ich geradezu grauenhaft. Boris Becker fand ich auch erst hinreißend. Dann ging es schnell den Hügel herunter. Meine erste große Enttäuschung aber war Armin Hary. Als er 1960 seinen Weltrekord über 100 Meter aufstellte, war ich 16 und bin natürlich schnell entflammt. Aber nach seinem Olympiasieg gab es schmuddelige Immobiliendeals und eine Persönlichkeit, die mich, als ich sie kennengelernt habe, nicht gerade begeistert hat.

Kann Spitzensport ohne Vorbilder auskommen?

Vorbilder geben Lebensorientierung, so würde ich sie definieren. Deshalb gibt es im Spitzensport heute so gut wie keine Vorbilder mehr, denn Spitzensport kann kaum noch Lebensorientierung bieten.

Wann kam der Bruch?

Es gibt kein spezielles Jahr. Aber spätestens in den achtziger Jahren hat der Sport jede Form von Vorbildwirkung verloren. In dem Maße, in dem er Fernsehereignis wurde, Werbeträger, Sportler zu künstlichen Figuren hochstilisiert wurden. Die unnahbar waren, aber trotzdem eine falsche Nähe erzeugten. Und der Sport wurde viel brutaler und härter.

Dann kam der Bruch also von innen und außen.

Ja, von außen dadurch, dass Sportler durch die Medien prominent wurden. Und von innen durch die Verschärfung des Wettkampfs. Konkurrenten wurden auf einmal als Feinde betrachtet. Als Figuren, gegen die man sich aggressiv aufrüsten muss. Bis in die neunziger Jahre wurden Zweit- bis Sechstplatzierte bei den Olympischen Spielen in Deutschland noch geschätzt. Das ist vorbei. Aus den USA kam die Einschätzung: The winner takes it all.

"Der Sport ist am anfälligsten für ökonomisches Denken"

Haben daran nur die Medien Schuld?

Die Medien sind ja nichts anderes als Lautsprecher für eine allgemeine Einschätzung. In der Gesellschaft haben Umbewertungen stattgefunden: Es geht nicht nur darum, Erfolg zu haben, sondern absoluten Erfolg. Nicht nur eine Medaille zu gewinnen, sondern die Goldmedaille.

Woher kommt das?

Ich glaube, dass die Ökonomie mit ihren Wertvorstellungen alles durchdrungen hat. Das höchste Einkommen zu haben, durchdringt ja nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das Showbusiness, überall wo Rangordnungen aufgestellt werden. Wenn heute von einem sehr guten Koch die Rede ist, dann ist er ein Starkoch oder ein Kultkoch. Wenn ich Eisenbahn fahre, wird mir eine Kohlroulade von einem Kultkoch angeboten. Aber ich will keine Kultroulade essen. Es geht bis in die letzten Ritzen der Gesellschaft.

Hätte sich der Sport davor überhaupt schützen können?

Nein, er ist Teil der Gesellschaft und vielleicht sogar der Teil, der am anfälligsten ist für ökonomisches Denken.

Warum?

Weil er selbst quasi ökonomisch denkt in Zahlen und Leistungsvergleichen, Resultaten, in Produkten. Nehmen Sie eine Bundesligatabelle, die sieht nicht viel anders aus als die Leistungsbilanz eines Maschinenbauunternehmens. Oder nehmen sie die Erfolgsbilanzen von Vereinen. Manchester United will doch gleichzeitig möglichst viele Spiele gewinnen und möglichst viele Trikots verkaufen. Oder nehmen Sie Gehälter, Transfersummen, Übertragungsrechte. Es findet eine ganz tiefe Vermischung mit der Ökonomie statt, die gar nicht zu verhindern ist.

Sportverbände erzählen gern, dass die Welt im Sport noch ein bisschen besser ist, ein kleines Biotop.

Das ist die Lebenslüge der Sportverbände. Nach Aussagen der Verbände leisten sie eine Vorbildfunktion, die bessere Welt mit Fairness und Regeln zu befolgen. Die Sportverbände sind ja gemeinnützig, und sie profitieren auch steuerlich davon. Sie erzählen auch ständig von ihrem Wert, um ihr Produkt besser verkaufen zu können.

Gebauer über Jan Ullrich: "Sein sportliches Ende fand ich geradezu grauenhaft."
Gebauer über Jan Ullrich: "Sein sportliches Ende fand ich geradezu grauenhaft."

© AFP

Es gibt Sportler, die sagen: Ich habe keine Vorbilder, ich will selbst Vorbild sein. Halten Sie das für naiv oder ist es legitim?

Ich glaube eher, dass es legitim ist, wenn die Voraussetzungen stimmen. Wenn jemand extrem leistungsfähig ist und das verbindet mit fairem und respektvollem Verhalten gegenüber den Gegnern. Und dazu noch beschließt, sich aus all den dreckigen Praktiken des Spitzensports herauszuhalten.

Wer fällt Ihnen da ein?

Christian Schenk, der ehemalige Olympiasieger im Zehnkampf. Den find ich klasse. Er kämpft wirklich darum, etwas Gutes im Sport hinzubringen, denn er kümmert sich jetzt um Heime für Kinder aus Unterschichtfamilien. Oder Hennig Harnisch mit seinem Basketball-Projekt für die Berliner Schulen.

Ist es Zufall, dass Sie zwei Sportler nennen, die nicht mehr aktiv sind?

Das ist vielleicht kein Zufall. Diejenigen, die ihre Karriere hinter sich haben, haben mehr Zeit um nachzudenken, was sie aus ihrem Leben machen wollen. Und auch zu überlegen, wie sie ihre erfolgreiche Sportkarriere verbinden mit einem erfolgreichen Wirken zugunsten eines Sports, der auch für Jugendliche einen Anreiz bietet für – philosophisch gesprochen – ein besseres Leben.

Vorbilder hat der Sport Ihrer Ansicht nach nicht mehr, wie würden Sie dann seine öffentlichen Hauptdarsteller nennen?

Idole. Die produziert der Sport am laufenden Band. Durch Idole wird auch der ökonomische Kreislauf in Gang gehalten, ganz besonders in den Sportarten, deren Übertragungsrechte und Einkommen teuer zu refinanzieren sind, wie Fußball. Außerdem sind Leute aus den obersten Schichten der Gesellschaft glücklich, wenn Idole ihre Party besuchen.

Kann der Spitzensport überhaupt ohne solche Idole auskommen?

Natürlich, aber kein Sport mit ganz großer Publikumswirksamkeit. Vereine und Sportarten brauchen Idole, um sich publikumswirksam darzustellen. Nehmen Sie den Tennisboom in Deutschland. Den gab es schon, bevor Boris Becker Wimbledon gewann. Damals war der Deutsche Tennis Bund schon der drittgrößte Sportverband in Deutschland. Aber es gab noch keinen Spieler, der weltweit Aufmerksamkeit erregte. Als dann Boris Becker, Michael Stich und Steffi Graf ihre Erfolge hatten, gab es im Fernsehen mehr Tennis zu sehen als Fußball.

"Özils Erfolg wurde durch Thilo Sarrazin zertrümmert"

Der organisierte Sport spricht von einer Pyramide: Wir brauchen oben Idole, damit unten Jugendliche mit Sport anfangen, anstatt sich vor den Computer zu setzen.

Das hatte sich Pierre de Coubertin in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ausgedacht. Aber dadurch wird sie nicht zutreffender. Man kann natürlich sagen, wenn ein Land sehr erfolgreiche Sportler hat, zieht das die Jugendlichen in diese Sportarten. Da entsteht ein großer Sog. Aber es gibt auf der anderen Seite auch ganz viele Sportarten, die ohne jedes Idol auskommen: Straßensportarten, Abenteuersportarten wie Mountainbike, Skateboard, Inline-Hockey. Es gibt zwar keine Zahlen, aber Schätzungen, nach denen die Hälfte der Jugendlichen von solchen Sportarten angezogen wird. Die denken gar nicht daran, in einen Sportverein zu gehen. Sie wollen auch mit den Idolautoritäten des Sports nichts zu tun haben.

Also ist diese Pyramide eine weitere Lebenslüge des Sports?

Würde ich sagen. Denn sie hilft, den Spitzensport zu rechtfertigen. Indem man sagt, der Spitzensport muss gefördert werden, weil dann der Nachwuchs kommt. Aber so einfach ist es nicht. Der Nachwuchs kommt eventuell, wenn irgendwo jemand hoch im Kurs steht. Aber wir sehen mindestens genauso viele, die den Spitzensport ablehnen – ohne auf Leistung zu verzichten. Also wenn man sich Skateboarder anschaut, sieht man teilweise ganz erstaunliche Leistungen auf Treppengeländern und Granitplatten und so weiter, atemberaubende Dinge. Dafür brauchen sie keine Vorbilder. Und wenn sie Vorbilder haben, sind es ihre Kameraden, die ganz besonders gut sind. Das ist ein normaleres Verhältnis.

Haben Spitzensportler dann für die Gesellschaft überhaupt eine Bedeutung?

Im Allgemeinen nicht. Das ist vorbei. Es wäre natürlich unfair, zu sagen, es gibt keine eindrucksvollen Sportler mehr. Aber man muss sehr vorsichtig sein. Ich finde, die Sportverbände machen es sich viel zu einfach, indem sie behaupten, dass ihre Spitzensportler die leuchtenden Vorbilder unserer Gesellschaft sind. Aber was sagt denn ein leuchtendes Vorbild wie Magdalena Neuner? Dass sie aus dem Sport ausscheidet, weil sie genug davon hat, von den Sportfunktionären bei den Olympischen Spielen im Deutschen Haus hin- und hergeschubst und gar nicht ernst genommen zu werden.

Armin Hary, für Gebauer eine Enttäuschung.
Armin Hary, für Gebauer eine Enttäuschung.

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Aber Sportler strahlen doch in irgendeiner Weise auf die Gesellschaft aus, als Rollenmodell. Zum Beispiel Oksana Tschussowitina zur Vereinbarkeit von Familie und Spitzensport. Sie ist schon Mutter und gewinnt im weiblichen Turnen, in dem sonst nur Minderjährige erfolgreich sind, mit 36 Jahren noch eine WM–Medaille.

Das ist grandios. Rollenmodell ist ein guter Ausdruck dafür. Da kann der Sport eine ganze Menge liefern. Aber das ist nicht dasselbe wie ein Vorbild. Ein anderes Rollenmodell ist, wie man Studium und Hochleistungssport vereinbaren kann, auch das kann der Sport zeigen. Also Olympiasieger und hinterher Zahnarzt wie der Fechter Arnd Schmitt. Man muss sagen, dass Sportler deshalb so gut für so ein Modell geeignet sind, weil es sehr willensstarke Personen sind mit phantastischem Zeitmanagement und unglaublicher Selbstdisziplin. Leider bringt der Sport gar nicht so rüber, welche imponierenden Lebensläufe er hat.

Was ist mit Mesut Özil als Beispiel für erfolgreiche Integration?

Ich glaube, dass er in der türkischen Community als ein Vorbild für gelungene Integration gilt und ich finde völlig zu Recht. Solche Gruppen ringen um Anerkennung in der Gesellschaft. Da hat Sport noch eine klassische Aufstiegsfunktion. Einer von uns schafft es. Und dadurch bekommt nicht nur er Ansehen, sondern die ganze Gruppe. Nun hat man leider gesehen, dass Özils Erfolg im Frühsommer 2010 in Südafrika durch den Bestsellererfolg von Thilo Sarrazin im Spätsommer grandios zertrümmert worden ist. Das Komische war, dass Sarrazin weitgehend unwidersprochen vor seinem Publikum behaupten konnte, Türken würden zu dieser Gesellschaft kaum etwas beitragen. Ich fand das bemerkenswert, weil das in Frankreich 1998 auch passiert war…

…die Equipe multiculturelle, die Fußball-Weltmeister wurde...

...ja 1998. Und 2000 kam Le Pen in die Stichwahl ums Präsidentenamt.

Gunter Gebauer, 67, ist Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin. In seiner wissenschaftlichen Laufbahn hat er sich intensiv mit der Philosophie und Soziologie des Sports beschäftigt.

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