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Lichtblicke in der Tabuzone. Im Sport gibt es Initiativen gegen sexuellen Missbrauch. Doch sie stehen erst am Anfang.

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Interview zum Thema sexueller Missbrauch: „Kinderschutz ist ein Qualitätsmerkmal“

Johannes-Wilhelm Rörig, unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, spricht im Tagesspiegel über Maßnahmen, Defizite und das Gesetz des Schweigens im Sport.

Herr Rörig, der Berliner SC verlangt von jedem Trainer jährlich ein erweitertes Führungszeugnis. Ist dieser Verein einer der wenigen Lichtblicke im Sport bei der Prävention von sexuellem Missbrauch?

Der Berliner SC hat auf jeden Fall eine sehr vernünftige Entscheidung getroffen. Das erweiterte Führungszeugnis ist ein wichtiger Baustein im Präventionsbaukasten, durch den Kinder und Jugendliche besser vor sexualisierter Gewalt geschützt werden können.

Sie haben eine Umfrage unter deutschen Sportvereinen gemacht. Nur ein Drittel hat Präventionsmaßnahmen ergriffen. Zum Beispiel blickgeschützte Räume zum Duschen. Sind Ihre Bemühungen in den vergangenen Jahren zum Großteil wirkungslos?

Wir stehen beim Sport noch am Anfang. Klar, wir haben positive Beispiele, aber das sind Ausnahmen. Nur vier Prozent aller Vereine, die geantwortet haben, haben ein umfassendes Präventionskonzept, also mehrere Maßnahmen wie zum Beispiel Risikoanalyse und Ehrenkodex eingeführt. Knapp ein Fünftel hat einen Notfallplan und vier von zehn Vereinen haben Ansprechpersonen für den Verdachtsfall benannt.

Ernüchternd.

Ja, aber immerhin machen ein Drittel aller Vereine, die bei der Befragung mitgemacht haben, überhaupt etwas, zum Beispiel Fortbildungen für Übungsleiter oder Trainerinnen. Vereinsvorstände und die Mitglieder der Vereine insgesamt stehen in der Pflicht, sich um Kinderschutz zu kümmern. Es heißt ja nicht, dass ein Verein besonders gefährdet ist, wenn er viel zum Kinderschutz unternimmt. Im Gegenteil, das ist ein Qualitätsmerkmal. Es zeigt Eltern und anderen Mitgliedern, dass der Verein sich aktiv für den Schutz der Kinder und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt einsetzt.

Sie haben 12 000 Fragebögen an Sportvereine geschickt, 650 kamen zurück. Ist das für Sie ein Beleg für das Desinteresse von Funktionären an diesem Thema?

Es spricht eher für mangelnde Sensibilität und mangelndes Problembewusstsein. Wir müssen Eltern und Vereinen weiter und verstärkt die Gefahr von sexuellem Missbrauch klarmachen, damit das Thema wirklich ernst genommen wird.

Sie hatten bisher 17 000 Gespräche in den telefonischen Beratungsstellen. Wie viele Opfer in Sportvereinen sind darunter?

In der Amtszeit meiner Vorgängerin waren es rund fünf Prozent der Anrufenden. Aber die Zahlen sind nicht repräsentativ.

Der Schutz durch das Führungszeugnis stößt schnell an Grenzen. Väter oder Mütter, die als Betreuer einspringen, aber nicht Vereinsmitglied sind, müssen kein solches Zeugnis vorlegen. Deshalb ist auch ein wegen Missbrauchverdachts zur Fahndung ausgeschriebener Trainer bei einem Verein in Berlin lange nicht aufgefallen. Gibt es noch zu viele Lücken im System?

Das erweiterte Führungszeugnis ist kein Allheilmittel, es kann auch nur vor einem verurteilten Täter schützen. Aber es ist ein wichtiger Baustein, mit dem ein Verein eine Schutzmauer für Kinder bauen kann. Mindestens so wichtig sind klare Regeln, zum Beispiel in den Umkleide- und Duschräumen oder bei Hilfestellungen sowie das Sechs-Augen-Prinzip.

Der Berliner Fußballverband hat ein ausgeklügeltes System, um pädophile Trainer, die in anderen Vereinen aufgefallen sind, zu ertappen. In der Praxis, klagt Verbands-Vizepräsident Gerd Liesegang, seien viele kleine Vereine überlastet und froh über jeden, der mithilft. Nimmt der Sport Probleme in Kauf, damit überhaupt ein Sportbetrieb stattfinden kann?

Das darf er nicht. Ehrenamtliche Mitarbeiter sind sehr wichtig. Aber niemals darf es passieren, dass Kinder Risiken ausgesetzt werden, nur damit der Sportbetrieb stattfinden kann. Das muss auch nicht passieren. Deshalb müssen klare Regeln aufgestellt und eingehalten werden.

Heidi van Thiel, die Bundes-Jugendwartin der Deutschen Reiterlichen Vereinigung, kurz: FN, erzählte 2011, ihr Verband habe eine sehr konservative Klientel und müsse das Schweigen in den Vereinen durchbrechen. Von Missbrauchsfällen in ihren Vereinen habe sie nur „hintenrum“ erfahren. Ist also auch der gesellschaftliche Status eines Vereins Teil des Problems?

Es gibt immer wieder die Haltung, dass für den vermeintlichen Schutz einer Einrichtung oder eines Vereins über Vorfälle geschwiegen wird oder diese stillschweigend geduldet werden. Das war bei der Kirche nicht anders. Es gilt aber immer das Gleiche: Die Fälle dürfen nicht vertuscht werden, es muss aktiv aufgeklärt und aufgearbeitet werden, und die Einrichtungen sollten sich an klare Regeln zur Prävention halten.

Die FN arbeitet inzwischen mit der bundesweit anerkannten Beratungsstelle Zartbitter zusammen, ebenso wie der Fußballverband Rheinland und der Landessportbund Nordrhein-Westfalen. Wie bewerten Sie diese Zusammenarbeit?

Das ist das Beste, was ein Fachverband oder Verein machen kann. In Beratungsstellen erhält man Informationen und professionelle Unterstützung sowohl bei der Entwicklung und Anwendung von Schutzkonzepten, als auch im Verdachtsfall.

Die Deutsche Eislauf-Union wollte einen wegen Misshandlung und sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen verurteilten Trainer mit zu den Winterspielen 2010 nehmen. Erst der Deutsche Olympische Sportbund beendete diesen Plan.

Da kann man schon nicht mehr das Wort ungeschickt verwenden. So etwas ist überhaupt nicht zu akzeptieren. Einem Trainer, der wegen Missbrauchs an Kindern verurteilt wurde, dem dürfen Mädchen und Jungen nicht mehr anvertraut werden. Dies wäre fahrlässig bei dem besonderen Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis, das im Sport zwischen Trainern und Kindern oder Jugendlichen besteht.

Dieser Trainer hat nach seiner verbüßten Strafe weiterhin eine Spitzenathletin betreut. Gilt Ihr Urteil generell oder muss der betroffene Sportler selbst abwägen, ob er mit so einem Trainer arbeitet?

Für Leute, die wegen Missbrauchs verurteilt wurden, muss die Tür verschlossen bleiben, Kinder oder Jugendliche hauptberuflich oder ehrenamtlich zu betreuen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ein wegen sexuellen Missbrauchs verurteilter Pfarrer noch Umgang mit Kindern und Jugendlichen haben sollte.

Beim Deutschen Olympischen Sportbund wurde ein Mann, der sich als Opfer sexuellen Missbrauchs empfand, an das Frauenressort verwiesen. Da fühlte er sich nicht ernst genommen. Wie viel Überzeugungsarbeit ist noch bei Spitzenfunktionären zu leisten?

Beim DOSB ist das Problem angekommen, das stelle ich bei meinen Gesprächen fest. Das zeigen mir auch die Erfahrungen mit der Deutschen Sportjugend, einem Teil des DOSB. Sie hat wichtige Leitlinien und Handlungsempfehlungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen erarbeitet. Die große Aufgabe der nächsten Jahre lautet: Wie können diese Leitlinien auch in den Spitzenverbänden und vor allem Vereinen vor Ort ankommen? Dort müssen sie umgesetzt werden, sonst nützt das alles wenig. Da sind die Führungspersonen der Spitzenverbände gefordert. Sie müssen die Vereine in die Pflicht nehmen.

Gibt es Sportverbände, die besonders desinteressiert wirken?

Die kenne ich nicht. Aber ich kenne positive Beispiele. Die Reiterliche Vereinigung etwa. Oder aber der DTTB, der Deutsche Tischtennis-Bund.

Der Eislauf-Punktrichter Jörn Lucas, der sich als Rollkunstläufer sexuell belästigt gefühlt hatte und 26 Jahre später über diesen Vorfall berichtete, rät jedem Betroffenen, mit dem Outing bis nach Karriere-Ende zu warten. Sonst könnte die Karriere jäh gebremst werden. Seit seiner Aussage fühlt er sich als Punktrichter ausgebremst, für ihn eine klare Reaktion auf seine Aussage.

Das kommt mir sehr bekannt vor. Viele Betroffene berichten, dass sie, wenn sie ihren Missbrauch öffentlich machen, stigmatisiert sind oder sich stigmatisiert fühlen, ob im beruflichen, sportlichen oder im privaten Bereich. Das ist natürlich überhaupt nicht akzeptabel.

Was erzählen solche Opfer?

Sie werden behandelt, als wären sie Nestbeschmutzer. Dadurch wird Druck ausgeübt. Viele Menschen empfinden es tatsächlich als Zumutung, wenn sie Berichte von Betroffenen hören und sich damit auseinandersetzen müssen. Viele Menschen, gerade auch im nahen Umfeld der Betroffenen, möchten dieses Thema zunächst nicht an sich heranlassen. Man verdrängt, wiegelt ab, schiebt es von sich. Für Betroffene sind das verstörende Reaktionen. Es gibt auch im Spitzensport ein ganz erschreckendes Beispiel.

Welches?

Bei einer Veranstaltung der Deutschen Sportjugend ist 2012 eine ehemalige irische Leistungssportlerin aufgetreten. Sie hat beeindruckend davon erzählt, wie sie auf dem Weg zur Olympiateilnahme war, als sie durch ihren Trainer missbraucht wurde, wie verheerend der Schwimmverband reagierte. Der Trainer hat seinen Job behalten, und sie musste gehen.

Die britische Wissenschaftlerin Celia Brackenridge, weltweit führend in der Forschung zu sexuellem Missbrauch im Sport, sagt, im Sport herrsche ein Schweigegelübde wie bei der Mafia. Der Schwede Patrick Sjöberg, ehemaliger Hochsprung-Weltrekordler, und die frühere Kunstturn-Olympiasiegerin Olga Korbut haben lange nach ihrer Karriere gesagt, dass sie von ihrem Trainer sexuell missbraucht worden seien. Passt das in das Raster des Schweigegelübdes?

Ja, das ist klassisch. Vielleicht vergleichbar mit den Problemen, die Betroffene haben, die im familiären Umfeld missbraucht worden sind. Denen fällt es sehr schwer, über den Vorfall zu sprechen. Die Fachleute sagen ganz klar: Viele Betroffene müssen erst aus diesem sozialen, teilweise sogar finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zu den Tätern oder Täterinnen heraus, damit sie sich anvertrauen und über die Vorfälle sprechen können. Auch Sportler sind sehr abhängig von ihrem Trainer.

Sie reden ja dauernd mit Spitzenfunktionären im Sport. Haben die denn das Problem wirklich verinnerlicht?

Mit führenden DOSB-Funktionären bin ich im Gespräch. Mit den Spitzenverbänden und Landessportbünden müsste ich nun ebenfalls ins Gespräch kommen. Ich hatte auch ein Gespräch mit dem Sportausschuss des Deutschen Bundestags. Da habe ich die Sensibilität, die ich mir gewünscht hätte und die meiner Meinung nach dringend erforderlich ist, noch nicht gespürt. Daran wird zu arbeiten sein.

Johannes-Wilhelm Rörig, 54, ist seit Dezember 2011 Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Mit Amtsantritt der neuen Bundesregierung übt Rörig sein bisheriges Amt bis Ende März 2014 weiterhin geschäftsführend aus. Bis dahin sollen die Verhandlungen über die konkrete Fortführung in den nächsten Jahren  abgeschlossen sein. Der Jurist arbeitet seit 1998 im Bundesfamilienministerium und war  vor seiner jetzigen Tätigkeit bereits mit Fragen der Kinder- und Jugendpolitik und des Kinderschutzes befasst.

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