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Sport: Jäger der verlorenen Zeit

Vom WM-Finale 1954 sind in deutschen Archiven nur 18 Minuten Film erhalten. Der Sammler Johann Schlüper will das Spiel Schnipsel für Schnipsel rekonstruieren

Erkelenz. Johann Schlüper jagt Minuten. Filmminuten aus dem WM-Finale 1954 im Berner Wankdorfstadion. Schlüper will die Zeit einfangen, diese flüchtigen, euphorischen Momente, die zum sagenumwobenen 3:2-Erfolg der Walter-Elf über den hohen Favoriten Ungarn führten. Er will jenes Ereignis der Sportgeschichte bewahren, das in der kollektiven Erinnerung der Deutschen immer noch die größte Rolle spielt, einen an sich schnöden Sieg im Fußball, der für die junge Bundesrepublik wie eine Befreiung erschien. Die Befreiung aus dem grauen Nachkriegsalltag und aus der internationalen Isolation nach dem Ende der Nazi-Zeit.

Von den bedeutendsten neunzig Minuten der deutschen Fußballgeschichte ist in deutschen Film-Archiven nur ein Fünftel erhalten, 18 Minuten. Ein Treppenwitz. Johann Schlüper nennt es drastischer: „Ein Skandal“. Schon vor gut zehn Jahren machte er sich daran, den Beständen neue Minuten hinzuzufügen. „Ich war entsetzt, dass selbst der Deutsche Fußball-Bund nicht mehr hatte“, sagt Schlüper, und ließ dennoch nicht locker bei der Spurensuche. Zuerst besuchte er die Firma, die 1954 für Deutschland die Filmrechte an der WM 1954 hielt. Das Unternehmen heißt Sportfilm-Schubert und sitzt in München.

1994, erzählt Schlüper, saß er dort beim Firmenchef Hans Schubert – und fiel fast vom Stuhl, als Schubert ihm erzählte, was mit den Filmrollen der Weltmeisterschaft passiert war. „Die haben Ende der Fünfzigerjahre das ganze Filmmaterial auf den Müll geworfen, angeblich aus feuertechnischen Gründen und weil sie neuen Platz brauchten“, sagt Schlüper.

Über dieses Erlebnis kann sich Schlüper auch Jahre später noch so richtig aufregen. Die wichtigsten Anker der Erinnerung, die Bilder auf leicht brennbarem Zelluloid, sie schienen endgültig verloren. „Dass das verschlampt worden ist, das ist wirklich unbegreiflich.“ Immer wieder schüttelt Johann Schlüper den Kopf.

Eine Katastrophe für einen Sammler wie ihn war dieser Tag, und dennoch gab Schlüper seinen Anspruch auf Vollständigkeit nicht auf. Gaben die damaligen Korrespondenzen der Filmgesellschaft doch immerhin ein bisschen Hoffnung. Sie dokumentieren nämlich, dass einige Kopien des Berner Endspiels gegen Entgelt ins Ausland gegangen sind. Im November 1954 etwa fordert die Fédération Française de Football den Endspielfilm zu Lehrzwecken an. Weitere Anfragen kamen aus Uruguay, Brasilien, Chile und Italien. „Ich bin sicher, dass diese Filmrollen irgendwo noch liegen“, sagt Schlüper.

„Schlafmützen beim DFB“

Johann Schlüper will sich gerne im Ausland auf die Suche machen. „Aber die ganze Recherche, die ganzen Reisen kosten ja viel Geld“, die kann er, der private Sammler, der sein Auskommen als Angestellter in einem Sanitärbetrieb hat, nicht ohne weiteres aufbringen. Deswegen schrieb der 52-Jährige mehrfach in den letzten Jahren an Verbände und Firmen, von denen er dachte, dass sie ein ähnlich großes Interesse an den Filmaufnahmen haben müssten wie er. Zum Beispiel an den Deutschen Fußball-Bund, aber es kamen nur ablehnende Briefe. Im letzten Schreiben von Wolfgang Niersbach vom Organisationskomitee für die WM 2006 heißt es, sie würden ihm gern Türen öffnen, wenn er es benötige. „Das kann ich selbst“, sagt Schlüper trotzig. Er ist enttäuscht und findet, dass „beim DFB nur Schlafmützen sitzen“.

Auch Adidas zeigte kein Interesse, obwohl der Sportartikelhersteller mit diesem WM-Titel den Ruhm seiner drei Streifen begründete. Bei diesem Turnier bestand das Schraubstollen-Patent der Herzogenauracher seine erste große Probe.

Rückschläge dieser Art ließen Schlüper nicht kalt. Sein Jagdinstinkt aber lebte fort. Mit großer Sturheit fuhr er auch weiterhin in die Schweiz, um dort bei Fußballverband und Fernsehen nach weiteren Aufnahmen zu fahnden. Er reiste nach Ungarn, suchte dort mit Hilfe von Mittelstürmer Hidegkuti und ungarischen Journalisten in Archiven. Er tauchte ein in die skurrile internationale Sammlergemeinde, die sich den Dingen des Fußballs verschrieben hat. Und manchmal gibt es sie, die besonderen Momente im Leben eines Sammlers. So hat er aus der Schweiz gut erhaltene Privataufnahmen vom Endspiel in Bern bekommen.

Sie zeigen die Schlüsselszenen des Spiels aus ungewohnter Perspektive. Gefilmt wurde von der Tribüne aus, auf Höhe der Torauslinie. Diese Schwarz-Weiß-Sequenzen sind eine Sensation. Denn sie dokumentieren etwa Helmut Rahns 3:2 in seiner ganzen Entstehung und in einer einzigen Einstellung. Wie der Ball nach Schäfer-Flanke und Kopfballabwehr zu Rahn kommt, der ihn in seiner unnachahmlichen Weise auf links legt und die ungarischen Verteidiger ins Leere laufen lässt. Dann der Schuss, der ganz Deutschland jubeln ließ. „Allein für diese Aufnahmen hat sich der ganze Aufwand gelohnt“, jubelt Schlüper. Das Sammeln ist mühsam. Immerhin fünf Minuten hat Schlüper mit seinen bescheidenen Mitteln bislang zusammenbekommen.

„Sechs Minuten noch im Wankdorfstadion zu Bern. Keiner wankt“, so begann in der Rundfunkreportage die 84. Minute dieses Spiels, und nur wenige von denen, die damals am Radio Herbert Zimmermann folgten, haben jene bewegende Schilderung des entscheidenden Tors durch Helmut Rahn vergessen. „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen“, schreit Zimmermann in sein Mikrofon, seine Stimme überschlägt sich, sie klirrt militärisch, wie die eines Kriegsberichterstatters.

Johann Schlüper hat die Aufnahme vom 4. Juli 1954 nicht live miterlebt. Er hörte diese Reportage das erste Mal in den Siebzigerjahren, von einer „Rama-Schellack- Platte“, daran kann er sich genau erinnern. Die Fußballmannschaft, in der er damals kickte, feierte einen Sieg – laut, mit viel Alkohol – bei ihrem Trainer. In einem Anflug von Sentimentalität kramte der Trainer die Platte hervor und legte sie auf. Es wurde still, alle lauschten, weil sie fasziniert, aber auch ein bisschen erschrocken waren von dem enthusiastischen Timbre Zimmermanns. „Das klang wie direkt aus dem Tausendjährigen Reich“, sagt Schlüper. Die Stimme weckte seinen Jagdinstinkt. „Darf ich die haben?“, fragte er, doch sein Trainer gab den Tonträger nicht her. Seitdem jagt Schlüper alles, was irgendwie zu tun hat mit der WM 1954.

Hilfe für Sönke Wortmanns 54er-Film

Zunächst sammelte Schlüper Bücher und Sammelbilderalben, dann Fotos. Schließlich konzentrierte er sich auf die originalen Eintrittskarten und Programmhefte. Stolz präsentiert sie der Besitzer heute. Sie stecken, selbstverständlich chronologisch geordnet, in schützenden Plastikhüllen. Andere Raritäten prangen an den holzgetäfelten Wänden des Raumes, den Schlüper in seinem Haus im niederrheinischen Städtchen Erkelenz für seine 54er-Devotionalien eingerichtet hat. Wimpel etwa und signierte Porträts von Fritz Walter. Auch die Ausgabe der „Bild“-Zeitung vom 5. Juli 1954. „3:2! Deutschland ist Weltmeister! Triumph über Ungarn. Kurz vor Schluss schoss Rahn das Siegtor“, lautet die Schlagzeile. Irgendwie wirkt das ziemlich sachlich und nüchtern dafür, dass viele meinen, dass hier die eigentliche Gründung der Bundesrepublik vonstatten gegangen war. Ein Gründungsmythos wurde in jedem Fall geschaffen. Und dann liegen in dieser Museumsminiatur auch kleinere, blau angemalte Steine. „Die habe ich mir letztes Jahr aus Bern geholt“, sagt Schlüper, „als das Wankdorfstadion abgerissen wurde.“

Die Steinchen gehörten zur Stadionuhr, dessen Sekundenzeiger der Reporter Zimmermann nach dem 3:2 immer wieder beschwor, schneller zu gehen. Auch diese Steinchen behandelt sein Besitzer wie eine Reliquie. Schlüper hat vieles beisammen in seinem „Fußball Dokumentation Archiv der 5. Fußball-Weltmeisterschaft 1954“, wie er es auf seiner Visitenkarte nennt. Er ist mit Sicherheit derjenige, der diesen deutschen Mythos am besten zu dokumentieren vermag. Auch Sönke Wortmann war auf ihn angewiesen, bevor er in diesem Sommer den Spielfilm „Das Wunder von Bern“ drehte, der nächstes Jahr in die Kinos kommt. Schlüper hat dem Regisseur nicht nur mit Filmmaterial ausgeholfen, auch mit vielen Requisiten. „Der Wortmann ist ein Netter“, sagt Schlüper. Zur Belohnung ist er in einer Szene als Statist zu sehen.

So wirkt denn der 52-Jährige, was Menschen seiner Passion selten auszeichnet, auch ziemlich zufrieden mit sich und seiner Sammlung. Nur den Finalfilm, den hätte er eben gern komplett. Sein Optimismus ist ungebrochen. „Ich brauche nur das entsprechende Geld“, sagt Schlüper und hofft auf Mäzene. Neulich hat er wieder Lunte gerochen, da kam Post von einem befreundeten Sammler aus Kanada. Schlüpers Augen funkeln. Er sagt: „Da lag eine weitere Minute drin, ungarische Aufnahmen, mit französischem Kommentar.“ Diese Erfolgserlebnisse treiben ihn voran. Er wird also weiter versuchen, die 90 Minuten jenes späten Nachmittags in Bern in all seinen Details einzufangen. Die Jagd auf die Minuten geht weiter.

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