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Zeremonie ist alles. Auch Kakuryu (Mitte), der neueste Kämpfer im höchsten Rang, ist zur Pflege der Sumo-Riten verpflichtet.

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Japans Traditionssport Sumo: Schwere Krise

Sumo ist 2000 Jahre alt und gehört zu Japans Identität. Doch heute dominieren Ausländer den Sport – das Land wendet sich immer mehr ab von der einstigen Publikumsattraktion.

„Ich weiß noch gar nicht, wie ich jetzt sein soll“, sagte dieser 186 Zentimeter große und 146 Kilo schwere Brocken mit nervöser Stimme. Die halb begeisterten, halb erschütterten Pressevertreter hörten erwartungsvoll zu. Was würde der neue Held noch verkünden, jetzt, wo er den Olymp seiner Disziplin bestiegen hatte? „Ich werde einfach versuchen, ich selbst zu bleiben.“ Weniger spektakulär hätte sich Mangaljalavyn Anand kaum äußern können. Und das am glücklichsten Tag seines Lebens, wie es später doch noch hieß.

Am Nachmittag zuvor hatte der 28-Jährige in Osaka das Frühlingsturnier gewonnen, es war erst der erste große Titel seiner Karriere. Anschließend stimmte die Chefetage des Sumoverbands einstimmig für seine Beförderung zum Yokozuna. Der höchste Rang des japanischen Ursports. Kakuryu, wie Anands Kampfname lautet, ist erst der 71. Athlet, der diesen Titel tragen darf.

Mit der Beförderung gehen neue Pflichten einher. Kakuryu wird ab jetzt nicht nur einen edleren Kimono tragen, bei diversen Veranstaltungen rituelle Tänze aufführen müssen und generell an höheren moralischen Standards gemessen als die Konkurrenz. Er steht auch unter sportlich hohem Druck: Seinen Rang kann er zwar nicht mehr verlieren, aber sollte er zu häufig verlieren, wird ihm ein Karriereende nahegelegt. Damit er den stolzen Rang nicht beschmutzt. „Ich bin sicher, dass er alles geben wird, gut zu kämpfen“, sagte der Sumoverbandspräsident Toshimitsu Kitanoumi kühl nach der Beförderung. „Er soll die Verantwortung und das Bewusstsein spüren, ein Yokozuna zu sein.“

Keine ernsthaften Anwärter aus Japan

Weniger kalt lässt den Verband Kakuryus Herkunft: Geboren wurde Mangaljalavyn Anand in der Provinz Sükhbaatar in der Mongolei. Einem Land, das zwar verwandte Disziplinen des Ringens pflegt, aber eben nicht Sumo selbst. Professionell wird die Sportart nur in ihrem Ursprungsland Japan betrieben, und trotzdem ist Kakuryu schon der fünfte Yokozuna in Folge, der kein Japaner ist. Seit längerer Zeit gibt es auch unterhalb des höchsten Rangs keinen ernsthaften japanischen Anwärter mehr darauf.

Auf den Tribünen bei Sumoturnieren ist unterdessen manchmal Mosern zu hören, in Gesprächen mit Japanern häufig Bedauern zu vernehmen, dass in ihrer Traditionssportart kein Landsmann mehr gewinnt. „Sumo ist nicht mehr dasselbe“, plärrt ein älterer Herr in einem Chanko-Nabe-Restaurant nördlich von Tokios Stadtzentrum. Das Gericht, das in diesem urigen, mit Holzverschlägen verzierten Geschäft auf den Tisch kommt, ist ein Eintopf aus Reis, Geflügel und Gemüse. Die typische Nahrung der Sumoringer, die so am Tag bis zu 20 000 Kalorien zu sich nehmen. Der alte Herr, dessen buckliger Rücken ihn eher wie einen Zuschauer aussehen lässt, kaum wie einen Sportler, blickt fast vorwurfsvoll hinter die Theke, wo der ehemalige Ringer Asasegawa sein Essen vorbereitet. „Für ganz oben hat es nicht gereicht“, sagt Asasegawa, heute Mitte 30, und rollt den Kopf verlegen durch den Nacken. „Die Arbeit im Stall, wo alle leben und trainieren, ist sehr hart. Nur wenige können es zum Yokozuna schaffen.“

Kakuryu, der habe es verdient, findet Asasegawa. „Er hat immer hart gearbeitet, an Technik und Körper.“ Der ältere Herr, der alleine dasitzt, hin und wieder zum Fernseher schielt, wo die Aufnahmen von Kakuryus jüngstem Sieg in Osaka laufen, sieht das anders. Für einen von hier hat er einen ungewöhnlich scharfen Ton. „Sumo war mal unser Sport, der Sport der Japaner.“ Hat diese japanischste aller Sportarten aufgehört, japanisch zu sein?

Suche nach neuem Idol

Sumo ist um die 2000 Jahre alt und hat seinen Anfang in der Verehrung der Götter des Shinto, Japans Urreligion. Zu Beginn gehörten Kämpfe zum Zeremoniell am Kaiserhof, seit 400 Jahren gibt es professionelle Wettbewerbe. Die Regeln könnten kaum einfacher sein: Wer ein gegnerisches Körperteil auf den Boden bringt oder sein Gegenüber aus dem Ring treibt, hat gewonnen. Das Ganze dauert meist nur einige Sekunden. Noch in den 1990er Jahren war es dieser simple Sport, begleitet durch Traditionalismen vor dem Kampf wie das reinigende Werfen von Salz, der die meisten Zuschauer vor Japans Fernseher brachte. Heute ist laut Umfragen sogar Golf beliebter.

Dick im Geschäft: Die Kämpfe von Akebono (r.) waren Großereignisse im japanischen Fernsehen.
Dick im Geschäft: Die Kämpfe von Akebono (r.) waren Großereignisse im japanischen Fernsehen.

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Über die Jahre hat so etwas wie ein Teufelskreis eingesetzt, glaubt Kakuryus mongolischer Landsmann Harumafuji, der vor zwei Jahren der letzte Ringer war, der zum Yokozuna ernannt wurde. „Japanische Idole wären schon gut für den Sport“, sagt er am Rande eines Termins in Tokios Geschäftsviertel Yurakucho.

Der letzte Japaner im Rang eines Yokozuna war der Tokioter Takanohana, 2003 beendete er seine Karriere. In den 1990er Jahren erlebte Sumo mit Takanohana und dessen Bruder Wakanohana, der ebenfalls Yokozuna war, eine Boomzeit. Die japanischen Brüder und der kolossale, 230 Kilo schwere US-Amerikaner Akebono lieferten sich damals umjubelte Duelle, die zu nationalen Rivalitäten erklärt wurden. Damals wurde Sumo auch in Deutschland live übertragen. Heute ist der Sport auch international viel unbedeutender.

Wandel in der Gesellschaft

Nur am Mangel an Vorbildern kann es nicht liegen. „Die jungen Leute kämpfen nicht“, sagt der ältere Herr im Restaurant in Richtung von Asasegawa. Die Plakate an der Wand zeigen Asasegawa senior, der viel erfolgreicher war als sein Sohn, der hier den Laden schmeißt. Der Vorwurf der verweichlichten Generation, die von Konsumgütern verwöhnt ist und der allzu häufig Leidenschaft abgehe, ist häufig zu hören.

„Den Jungen hier fehlt vor allem der Erfolgshunger“, stichelt auch Harumafuji, der in der mongolischen Hauptstadt Ulan-Bator in Armut aufwuchs und schon als Kind seine Familie ernähren musste. Seinen Weg an die Spitze fasst er einfach und von seiner Leistung scheinbar unbeeindruckt zusammen: „Essen, Training, Essen, Training“ und eine tägliche körperliche Verausgabung „bis kurz vor den Tod“.

Traditionell kamen die stärksten Ringer aus Japans ärmeren ländlichen Regionen, meist ohne Mittel, eine gute schulische Ausbildung zu bezahlen. Da bot es sich an, bei einem der Sumoställe anzuheuern, in denen Ringer gemeinsam trainieren und leben. Den unteren Rängen wird zwar kein Geld gezahlt und der Alltag im Stall ist von hartem Training und Entbehrungen geprägt, aber für Kost und Logis ist gesorgt. Heute zählt sich fast jeder Japaner der Mittelschicht zugehörig, Familien setzen eher auf Bildung. Und wer doch auf eine Karriere im Sport wettet, müht sich meist im Baseball, der beliebtesten Sportart, oder dem boomenden Fußball.

Letzter großer Star aus der Heimat: Der Tokioter Takanohana (li.) sorgte in den 90ern für einen Sumo-Boom.
Letzter großer Star aus der Heimat: Der Tokioter Takanohana (li.) sorgte in den 90ern für einen Sumo-Boom.

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Sport im Zwielicht

Sumo machte zuletzt eher durch Skandale auf sich aufmerksam. 1996 schrieb der ehemalige Ringer und Stallmeister Onaruto gemeinsam mit einem anderen Ex-Athleten ein Buch über die Szene. Drogenmissbrauch, Steuerhinterziehung und Verbindung zur japanischen Mafia wurden erwähnt. Kurz vor der Veröffentlichung starben beide auf mysteriöse Weise. Weitere Unehre folgte. 2010 kamen illegale Wetten auf Baseballspiele durch Ringer ans Licht.

Ein Jahr später gestanden mehrere Athleten, die eigenen Kämpfe verschoben zu haben. Durch Japans Öffentlichkeit ging ein Aufschrei, das öffentlich-rechtliche Fernsehen strich Sumo aus seinem Programm, dem Verband droht nun auch das Ende von Steuerbegünstigungen. Der wohl größte Skandal ereignete sich vor sechs Jahren, als ein 17 Jahre alter Ringer nach Anweisung des Trainers mit Bierflasche, Baseballschläger und glühenden Zigaretten geprügelt wurde und schließlich daran starb. Immer wieder ist von Gewalt in den Ställen berichtet worden und von Geschichten junger Athleten, die wegen des harten Lebens hinschmeißen.

Die Sumoställe haben auch deshalb seit Jahren Probleme, Nachwuchs zu finden. In der Boomzeit 1992 bewarben sich 223 junge Männer um Plätze in den rund 50 Ställen. In den letzten Jahren bewegte sich der Wert noch bei etwas mehr als 50. Eine kluge Investition scheint der Sport auch nicht zu sein. Nur bis zu 70 Ringer können überhaupt im Sumo ein Gehalt beziehen, aber rund zehnmal so viele leben und trainieren in Tokios Ställen.

Ein Aushilfsjob nach dem anderen

Und ein weiteres Problem überragt den Sport: die Frage der Karriere nach der Karriere. „Nur ein Bruchteil bekommt hinterher einen der sicheren Jobs beim Sumoverband“, sagt die deutsche Japanologin Verena Hopp, die an der Tokio Riverside School Sumo unterrichtet. „Die meisten haben mit abgeschlossener Schule noch keine Berufsausbildung und erleiden durch das Training körperliche Schäden. Mit ungefähr 30 Jahren ist man für eine übliche Laufbahn auf Japans Arbeitsmarkt zu alt.“

Viele hangeln sich dann von einem Aushilfsjob zum nächsten. „Die regelmäßigen Tätigkeiten wären dann Türsteher in den Ausgehvierteln oder Koch in einem Chanko-Restaurant.“ Asasegawa, der zurückgetretene Ringer, ist ein Beispiel von vielen. Ein Idol ist er nicht mehr.

Womöglich hat der neueste Yokozuna Kakuryu, der auch unter japanischen Anhängern beliebt ist, das Zeug zum Vorbild. Zumindest passt er biografisch besser in die Realität junger Japaner. Der Sohn eines Professors wuchs auf, ohne hungern zu müssen. Und hat trotzdem gezeigt, dass man Hunger auf Erfolg haben kann.

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