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Sport: Jedem seine Wahrheit

Im Kampf um die WM-Plätze wird die Hysterie noch deutlich zunehmen

Möglicherweise hat Jens Lehmann am Ende eines fehlerfreien Abends doch noch einen entscheidenden Fehler begangen. Es könnte sein, dass er nach dem 4:1 der deutschen Fußballer gegen die USA den Verhaltenskodex für Nationalspieler verletzt hat. Darf ein Spieler, der gar nicht zum Einsatz gekommen ist, nach dem Spiel ausgiebig Auskünfte erteilen, oder verletzt er damit den allgemeinen Komment? Üblich ist es jedenfalls nicht. Doch Lehmann, Torhüter des FC Arsenal und nach offizieller Sprachregelung Herausforderer im Kampf um den Platz im deutschen Tor, nutzte einen Tag nach Oliver Kahns Regierungserklärung die Gelegenheit, sein Oppositionsprogramm vorzutragen: „Ich sehe keinen einzigen Grund, warum ich bei der WM nicht spielen sollte.“

Möglicherweise hat Oliver Kahn am Ende eines fehlerfreien Abends doch keinen entscheidenden Fehler begangen. Zumindest haben ihn seine neuen Freunde von der „Bild“-Zeitung von der offenkundigen Schuld am Gegentor der Amerikaner freigesprochen. Die Kooperation zwischen dem Torwart und den Erfindern seines Titanen-Images funktioniert zurzeit besser denn je, und im ohnehin verwirrenden Torwartstreit trägt dieser Faktor noch zur weiteren Verwirrung bei. Beim Stand von 1:0 hatte Kahn mit einem Reflex den Ausgleich der Amerikaner verhindert. Als allerdings fünf Minuten vor Schluss ein langer Ball in den Strafraum flog, versuchte Kahn mit dem Kopf zu klären, anstatt den Ball wegzufausten. Der Ball rauschte über ihn hinweg ins Tor. „Die Kunst ist es, den entscheidenden Ball zu halten“, sagte Kahn.

Jeder hat seine eigene Wahrheit, und nirgendwo ist das besser zu beobachten als im Torwartstreit. Je näher dessen abschließende Klärung rückt, desto verzerrter wird die Selbstsicht der beiden Kombattanten. Kahn wähnte sich vor dem 1:4 außerhalb des Strafraums, weshalb er auf den Einsatz seiner Hände verzichtete. Genauso wie Kahn zuvor seine Stärke auf der Linie dokumentiert hatte, offenbarte er in dieser Szene seine Schwäche im Strafraum. Eine neue Erkenntnis war das für Bundestrainer Jürgen Klinsmann nicht.

Das Spiel gegen die USA, das letzte vor der Festlegung des WM-Kaders am 15. Mai, hat Klinsmann nicht entscheidend vorangebracht. Auf den letzten Drücker haben sich mit Sebastian Kehl und Oliver Neuville nun noch zwei nachrangige Spieler empfohlen, von denen man bisher annehmen musste, dass der Bundestrainer sie bei der Weltmeisterschaft nicht unbedingt dabei haben wollte. Kehl durfte zum ersten Mal überhaupt unter Klinsmann spielen, er erfüllte seine Aufgabe im defensiven Mittelfeld mit viel Disziplin, aber wenig Esprit. Angesichts der jüngsten Verirrungen reichte dies jedoch schon, um von Franz Beckenbauer zum Gewinner des Spiels geadelt zu werden.

So ähnlich durfte sich auch Neuville fühlen. Nicht einmal zehn Minuten nach seiner Einwechslung erzielte er das 2:0, zwei Minuten später bereitete er Miroslav Kloses Tor zum 3:0 vor. „Meine Leistung war gut, meine Chancen sind erheblich gestiegen“, sagte der Stürmer. Unter Jürgen Klinsmann ist Neuville zu gerade vier Einsätzen gekommen, doch mit zwei Toren kann der Gladbacher auf eine ansehnliche Bilanz verweisen. Seine Zuversicht in Sachen WM hat bisher immer ein wenig aufgesetzt gewirkt, inzwischen jedoch besitzt sie eine halbwegs realistische Basis.

In seinem Optimismus unterscheidet sich Neuville nicht von Kahn und Lehmann. Die Frage, ob er als fünfter Stürmer mit zur WM darf oder doch Mike Hanke, wird die Nation allerdings weit weniger berühren als die Besetzung der Torhüterposition. Die allgemeine Hysterie wird bis zur Entscheidung wohl noch weiter zunehmen. „Ich habe keine Partei ergriffen“, sagte Kapitän Michael Ballack, dessen Aussage, es werde keine Überraschung geben, als Votum für Kahn gewertet worden war. Lehmann behauptete einerseits, er sei keiner, der dauernd zu Klinsmann renne, sagte aber andererseits dem „Kicker“, er habe sich rückversichert, dass die Entscheidung noch nicht gefallen sei. „Wer vielleicht was gesagt hat – dazu möchte ich mich jetzt nicht äußern“, sagte Klinsmanns Assistent Joachim Löw.

Im Torwartstreit gibt es inzwischen so viele Wahrheiten, dass man die beiden Hauptbeteiligten Kahn und Lehmann fast um ihre simple „Ich bin sowieso der Beste“-Weltsicht beneiden muss.

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