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Sport: Jeder Hooligan ein Einzelfall

Auch die Bundesliga litt früher unter Fußball-Rowdys. Es hat lange gedauert, die Szene zu verändern

Berlin - Viele sitzen immer noch auf der Tribüne, in Berlin, Dortmund oder Gelsenkirchen. Die Chaoten, die sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren schlugen und andere von den Stadien fernhielten, sind heute Ende 30, Anfang 40. Sie kommen mit ihren Familien in die neuen Stadien. „Die Menschen haben sich nicht in Luft aufgelöst“, sagt Donato Melillo, Fanbeauftragter bei Hertha BSC. Viele seien Fans geblieben, aber die Hooliganszene sei nicht mehr aktiv.

Die etablierten Bundesligaklubs haben das Problem, das sich jetzt in Leipzig gezeigt hat, bewältigt. In den Achtzigerjahren kamen noch bis zu 800 Mitglieder der „Gelsenszene“ zu sogenannten Brisanzspielen gegen Dortmund oder Köln ins Parkstadion, in dem Schalke 04 spielte. Im Fall von Hertha BSC erlebten die Krawalle auf einer Auswärtsfahrt nach Aachen ihren Höhepunkt, als ein Waggon der Deutschen Reichsbahn auf dem Weg durch die DDR ausbrannte. Synonym für die Gewalt wurde das belgische Heysel-Stadion: 1985 starben dort 39 Menschen, vor allem Fans von Juventus Turin, auf der Flucht vor Hooligans des FC Liverpool. Das ist lange her. In der Bundesliga gab es lange keine Vorkommnisse mehr. „Die Szene hat ein Nachwuchsproblem“, sagt Marcus Dehnke, der das Schalker Fanprojekt leitet. Sie sei unattraktiv für junge Leute geworden.

Dabei hat eine Stadt wie Gelsenkirchen ähnliche Probleme wie viele Regionen in Ostdeutschland: Die Arbeitslosigkeit ist stark gestiegen, fast ein Drittel der Bevölkerung ist abgewandert. Es sind die Gründe, die für das Erstarken der Randalierer in Ostdeutschland genannt werden, die inzwischen mit Fahndungsfotos gesucht werden.

In Ostdeutschland sind viele Klubs verzweifelt, die Stadien sind marode und anfällig für Gewalt (siehe Artikel rechts). Viele Fanszenen sind von Rechtsradikalen unterwandert – wie früher die sogenannte „Borussenfront“ in Dortmund. Wie haben die großen Klubs die Probleme gelöst? „In der DDR wurde das Thema totgeschwiegen. Danach unterschätzt“, sagt Steffen Wirth, ebenfalls Fanbeauftragter bei Hertha. Die großen Klubs im Westen waren alarmiert durch rückläufige Zuschauerzahlen. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) entwarf 1992 mit anderen Institutionen das Nationale Konzept Sport und Sicherheit. Es ging neben Sicherheitsstandards um die Gründung von Fanprojekten. Diese verstehen sich „als kritische Interessenvertretung“, wie Marcus Dehnke sie nennt. Der 37 Jahre alte Diplom-Sozialarbeiter betont das Vertrauensverhältnis, welches das Projekt zur Hooliganszene aufgebaut hat. Als vereinsunabhängiges Organ war es leichter, Kontakt aufzubauen. Dehnke spricht von „Einzelfallhilfe“, die anfangs entscheidend gewesen sei. Viele seien aus Frust oder Langeweile in die Szene geraten, andere suchten Anerkennung.

Das Fanprojekt half bei der Arbeitsplatzsuche, begleitete die Schläger bei einfachen Behördengängen. „Viele hatten nichts zu verlieren und fürchteten auch nicht Polizei und Justiz“, sagt Dehnke. Im Osten fehlen diese Projekte vielfach, es mangelt an Geld. Es gibt keine Vermittler zwischen Klub, Szene und Polizei. Feindbilder verfestigen sich.

In den oberen Spielklassen hat sich derweil die Fußballkultur gewandelt. „Früher gingen vor allem junge Männer ins Stadion. Heute ist Fußball gesellschaftsfähig“, sagt Wirth, 42, der seit 25 Jahren zu Hertha geht. Die neuen Arenen ziehen mit Komfort breite Schichten an. Die Stadien bieten mit bis zu 90 Überwachungskameras und präzise geplanten Zugangswegen kaum Möglichkeiten, die Kräfte zu messen. Jugendliche fühlen sich eher von den sogenannten Ultras angezogen, die sich als Protestbewegung gegen die Kommerzialisierung verstehen. Gewalt geht jedoch – im Gegensatz zu den Vorbildern aus Italien – selten von ihnen aus.

In den unteren Ligen, auch im Westen, ist der Fußball nur für wenige attraktiv. Zudem gibt es mehr brisante Derbys. Die Vereinsbindung ist teilweise nicht mehr wichtig. Dehnke spricht von „Gewalttouristen“, die gezielt Spiele ansteuern. Zudem schlägt die Gewalt schneller auf die gesamte Fanszene über. In Dresden warten nach einem Heimspiel gerne Hunderte Schaulustige auf die Auswärtsfans – und ermuntern so auch die Chaoten.

Leitartikel: Seite 1

Stefan Tillmann

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