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Sport: „Jedes Kind, das vom Strich weg ist, ist ein Geschenk“

Nationalspieler Sebastian Kehl über sein Engagement gegen Kinderprostitution und sein Treffen mit Papst Johannes Paul II

Wenn Erwachsene an Kindern ihre sexuellen Bedürfnisse befriedigen, macht es uns sprachlos. Die Organisation „Roterkeil.net“ findet Worte dafür, auch wenn es schwer fällt. „Für die Täter ist es nur ein kurzer Kick und ein Moment der Befriedungen in einer Reihe von vielen. Für die Mehrheit der Kinder ist es das Ende ihres Lebens und der Anfang einer langen Leidensodyssee“, steht auf der Internetseite der Organisation. Ihre Arbeit hat einige prominente Unterstützer. Einer davon ist Sebastian Kehl, deutscher Fußball-Nationalspieler von Borussia Dortmund.

Herr Kehl, weshalb engagieren Sie sich für Roterkeil.net?

Als ich nach Dortmund kam, hat mich Christoph Metzelder, der das Projekt schon begleitet hatte, angesprochen, ob ich nicht auch mitmachen möchte. Dann habe ich Jochen Reidegeld getroffen. Er ist derjenige, der das Projekt hier in Deutschland vorantreibt. Kinderprostitution ist ein Thema, vor dem viele die Augen verschließen. Dadurch, dass ich in der Öffentlichkeit präsent bin, kann ich Mädchen und Jungen eine Stimme geben, deren Leid man kaum in Worte fassen kann. Das lag und liegt mir immer noch am Herzen. Diese Kinder, in denen so viel Fröhlichkeit und so viele Talente schlummern, werden nicht nur körperlich, sondern vor allem auch seelisch verletzt und nicht selten gebrochen.

Welche Ziele verfolgt das Projekt?

Das übergeordnete Ziel besteht zum einen darin, Kinder so schnell wie möglich vom Strich weg zu bekommen und ihnen dabei zu helfen, mit den traumatischen Erfahrungen umzugehen. Das ist ein ungeheuer mühsamer und schmerzhafter Prozess. In gleichem Maß liegt uns daran zu verhindern, dass Mädchen und Jungen in den gefährdeten Regionen und gesellschaftlichen Schichten zu Opfern werden. Wenn wir auf diesem Feld gegen pädokriminelle Aktivitäten kämpfen, dann schauen wir nicht auf Statistiken. Jedes Kind zählt. Denn nicht fünf Prozent leiden, sondern jedes Mädchen, jeder Junge. Dem dienen unsere Partnerprojekte in verschiedenen Ländern, dieses Ziel verfolgt unsere politische Lobbyarbeit auch hier in Deutschland.

Waren Sie schon mal in Sri Lanka, dort wo das Projekt seine Anfänge hat?

Bisher leider nicht. Aber wir haben Pater Pinto hier in Deutschland getroffen. Er ist Leiter des Projekts in Sri Lanka. Mit ihm haben wir Informationen aus erster Hand ausgetauscht. Das war ein sehr bewegendes Treffen. Leider haben wir noch nicht vor Ort in Augenschein nehmen können, wie dort das Waisenhaus im Norden entsteht oder wie die schulischen Ausbildung abläuft, die wir mit den Projektpartnern anbieten, um den Jugendlichen der Umgebung eine Zukunftsperspektive zu bieten. Dafür reichte bisher die Zeit einfach noch nicht. Anfang des Jahres treffen wir uns mit Pater Emanuel. Er leitet das neue Projekt in Uganda. So versuchen wir, von den Kontaktleuten auch ein Feedback zu bekommen. Kommen die Hilfen an? Wie geht es voran? Was wird benötigt? Wir haben unsere Leute schon lange vor Ort. Deshalb wissen wir auch, was fehlt und wo die Gelder sinnvoll angelegt sind.

Wie hilft Roterkeil denn den Kindern?

Vor Ort kümmert sich der Orden der Salesianer um die Kinder. Man kann sich das wie einen Drei-Stufen-Plan vorstellen. Die Kinder gehen dort auf den Strich. Zum Teil werden sie von ihren Familien auch an die Pädokriminellen verkauft, damit die anderen Familienmitglieder eine Lebensgrundlage haben. Die Ordensleute und Streetworker gehen zuerst zu den Kindern und Jugendlichen, reden mit ihnen und versuchen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie versuchen zu vermitteln, dass es auch ein anderes Leben gibt. Das es möglich ist, Geld zu verdienen, ohne auf den Strich zu gehen. Das stellen wir bei allen betroffenen Kindern und Jugendlichen fest: ob in Sri Lanka, in Kambodscha, in Angola oder in Berlin oder Köln, ihr Selbstwertgefühl ist so vermindert, dass sie sich irgendwann auch gar kein normales Leben mehr zutrauen.

Wie geht es dann weiter?

Wo es sich um Jugendliche handelt, versuchen wir, sie aus der Szene herauszuziehen. Dazu gibt es so genannte Drop-in- Center und in einer zweiten Stufe Internate und Schulen. Wir versuchen, ihnen dort schulische und berufliche Bildung zu ermöglichen, ihnen einen neuen Lebenssinn zu geben. Aber es ist schwer, ihr Vertrauen zu gewinnen. Wo es um kleine Kinder geht, werden die Kinder auch schon mal in gemeinsamen Aktionen mit Kinderschutzbehörden herausgeholt.

Wie genau versucht Roterkeil.net den Kindern zu helfen?

Die seelischen Schäden sind fast immer schlimmer als das körperliche Leid. Die Kinder haben das Vertrauen in die Menschen verloren. Wir möchten ihnen das wieder zurückgeben und sie so lange wie möglich begleiten. Wir kümmern uns in der Schule um sie und begleiten sie bei der Berufsausbildung. Wir versuchen einfach, ihnen ihre Ängste und Nöte ein Stück weit zu nehmen. Aber irgendwann müssen sie auch den Absprung schaffen und den Weg alleine weitergehen.

Wie sind die Erfahrungen von Roterkeil.net in Deutschland?

Statistisch gesehen ist es schon so, dass in Thailand oder Sri Lanka viel mehr Kinder zur Prostitution gezwungen sind als in Deutschland. Aber unser Blick gilt jedem einzelnen Kind. Jedes Kind ist uns wichtig. Jedes Kind, das nicht mehr auf den Strich geht, ist ein Geschenk. Auch bei uns werden Kinder zur Ware. Das will man nicht glauben, aber es ist so. Auch in Deutschland sind Kinder nicht in ausreichendem Maß vor Missbrauch geschützt.

Erinnern Sie sich an die erste Begegnung mit betroffenen Kindern?

Das war beim Kölner Projekt Looks e.V. Es war ein einschneidendes Erlebnis. Für mich war es auch das erste Mal, dass ich in einem der sogenannten Brennpunkte war. Wir saßen dort mit den Jugendlichen zusammen und haben uns unterhalten. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl. Aber für die Jugendlichen war es sicher noch schwerer. Sie denken oft: Ich bin nichts wert in der Gesellschaft, ich tauge zu nichts. Das ist ein riesiges Problem. Man muss diesen Kindern wieder vermitteln, dass sie genauso viel wert sind wie andere Menschen auch.

Wie geht das?

Wir signalisieren den Kindern: Wir leisten euch Hilfestellung dabei, dieses Gefühl wieder zu erlangen. Wir leisten euch aber auch Hilfestellung auf dem Weg, den ihr jetzt eingeschlagen habt. Bei Looks e.V. besteht der erste Schritt nicht darin, den Jugendlichen zu sagen, was sie anders machen müssen, sondern in einer medizinischen Betreuung. Wir zeigen einfach: Ihr seid nicht allein. Außerdem arbeiten die Sozialarbeiter präventiv, indem sie mit Wohnmobilen zu Treffpunkten von Jugendlichen fahren. Sie wissen, wo die Jugendlichen auf den Strich gehen. Dort versuchen sie mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Wie sieht Ihr eigenes Engagement aus?

Das funktioniert beispielsweise über dieses Interview. Wir wollen den Kindern eine Stimme geben, Öffentlichkeit schaffen für dieses Thema. Wir haben aber auch bei uns im Stadion schon einige Aktionen durchgeführt. Außerdem wollen wir den Pädokriminellen zeigen, dass das Netzwerk, das sie sich aufgebaut haben, jetzt einen Gegenspieler erhält. Wir zeigen ihnen: Ihr seid nicht mehr unbeobachtet. Ihr habt es nicht mehr so leicht wie früher. Wir wollen auch erreichen, dass die Gewalttaten gegen Kinder härter bestraft werden. Unser Gegen-Netzwerk ist stark. Es ist mit vielen Prominenten bestückt. Auch Politiker machen mit. Das ist wichtig, weil auch Gesetze verändert werden müssen. In einigen Ländern ist Kindesmissbrauch gleichgesetzt mit Autodiebstahl oder Einbruch. Das ist einfach nicht nachvollziehbar und nicht zu akzeptieren. Darauf wollen wir aufmerksam machen. Und da hilft mein Bekanntheitsgrad einfach.

Hat die Arbeit für das Projekt Sie persönlich stark beeinflusst?

Klar. Gerade in meinem Berufsstand leben wir wirklich gut. Ohnehin jammern wir in Deutschland oft auf hohem Niveau. Wenn man sich dann aber über die grundlegenden Dinge einfach mal wieder klar wird, relativiert sich manches. Ein vernünftiges Elternhaus zu haben. Vernünftig erzogen worden zu sein. In einem familiären Umfeld aufzuwachsen. Das habe ich alles genießen können. Man lernt das wieder zu schätzen, wenn man sich mit solchen Sachen beschäftigt.

Im Januar 2005 waren Sie beim Papst. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Das Treffen mit Johannes Paul II. war sehr ergreifend. Es war seine letzte Audienz, die er gegeben hat. Er war zu dem Zeitpunkt schon sehr krank. Aber er war trotz alledem noch eine Persönlichkeit, die einfach so einen hohen Respekt verdient. Ich hatte vorher ja auch schon eine Menge erlebt, war in allen Stadien, habe viele Fußballgrößen getroffen. Aber dem Papst persönlich zu begegnen, ihm die Hand zu geben und den Ring zu küssen, das war schon einer der ergreifendsten Momente in meinem Leben. Er hat uns dann auch seinen Segen für unser Projekt erteilt. Wenn ich daran denke, bekomme ich heute noch eine Gänsehaut.

– Das Gespräch führte Jürgen Bröker.

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