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Lehmann

© ddp

Jens Lehmann: Einfahrt in den Tunnel

Jens Lehmann wird immer oliverkahniger. Deutschlands Torwart will sich durch nichts mehr ablenken lassen und fügt seiner langen Reihe komischer Auftritte einen weiteren hinzu.

Das Tessin, die temporäre Heimat der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, zählt zu den lieblichsten Flecken der Schweiz. Das Tor zum Süden wird der Kanton genannt, doch wer durch dieses Tor will, muss erst ein massives Hindernis bewältigen: den St. Gotthard. Siebzehn Kilometer misst der Tunnel durch den Berg, der das Tessin vom Rest der Schweiz trennt, aber das ist gar nichts im Vergleich zu dem Tunnel, in den Jens Lehmann gerade eingefahren ist.

Sein Tunnel heißt Europameisterschaft, er ist im günstigsten Fall dreieinhalb Wochen lang, sehr schmal, sehr dunkel und erfordert volle Konzentration. Unter keinen Umständen will sich der Torhüter der deutschen Nationalmannschaft auf seinem Weg von äußeren Einflüssen ablenken lassen, nicht einmal von der an sich positiven Nachricht, dass er im hohen Alter von 38 Jahren mit dem VfB Stuttgart doch noch einen neuen Arbeitgeber gefunden hat und seine Karriere mindestens ein weiteres Jahr andauern wird. Lehmann habe seinen „Wunsch auf Heimat“ befriedigt, sagt Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, „als Vater von drei Kindern ist es beruhigend für ihn zu wissen, wo es hingeht“. Wenn das wirklich so ist, gelingt es dem künftigen Stuttgarter, seine Gefühle perfekt zu überspielen.

Als Lehmann am Tag nach der Einigung mit dem VfB zur Pressekonferenz der Nationalmannschaft erscheint, geht er auf dem Podium in Stellung. „Soll ich stehen bleiben?“, fragt er. „Dann biete ich mehr Angriffsfläche.“ Seiner langen Reihe komischer Auftritte fügt Lehmann einen weiteren komischen Auftritt hinzu: Eine gewisse Lust an der Provokation ist ihm nicht abzusprechen, vor allem aber scheint es ihm ein besonderes Vergnügen zu bereiten, die allgemeinen Erwartungen gerade nicht zu erfüllen. Lehmann könnte ja jetzt irgendwie zufrieden sein, und überhaupt hätte er mit seiner intellektuellen Veranlagung längst eine Art Anti-Kahn werden können. Einer, der ein bisschen augenzwinkernd und selbstironisch mit dem fortlaufenden Wahnsinn der Branche umgeht als sein verbissener Vorgänger. Im Laufe der Jahre aber ist Jens Lehmann seinem großen Rivalen Oliver Kahn immer ähnlicher geworden.

Der VfB? „Da freu ich mich drauf“, antwortet er. „Aber jetzt noch nicht.“ Ob er etwas zu Polen sagen könne, dem ersten EM-Gegner am Sonntag? „Nein.“ Nie war Lehmann oliverkahniger als in der Stunde seines größten Triumphes, nach dem Elfmeterschießen bei der WM 2006 gegen Argentinien. Später in der Mixed-Zone warteten alle auf Lehmann, den Helden des Abends. Er blieb bei den Journalisten stehen, sagte: „Die Leute sollen feiern, aber ich gehe jetzt nach Hause und bereite mich vor. Okay?“ Dann ging er weiter, blieb bei der nächsten Gruppe stehen und sagte das Gleiche wie zwei Meter zuvor. So ging das ein paar Mal, ehe er in der Berliner Nacht verschwand. Den Tunnel, den Oliver Kahn eigenhändig durch Welt- und Europameisterschaften gehauen hat, befährt jetzt Jens Lehmann.

Natürlich geht es auch um den äußeren Eindruck. Lehmann weiß, dass er sich angreifbar gemacht hat, weil er beim FC Arsenal die komplette Saison auf der Ersatzbank gesessen hat, dass er im Test gegen Weißrussland mehrmals nicht gut aussah und gegen Serbien nie richtig gefordert wurde. „Die Ausstrahlung war eigentlich gut“, hat Bundestrainer Joachim Löw nach dem Spiel gesagt, damit er wenigstens etwas Positives über seine Nummer eins sagen konnte. Jens Lehmann will unbedingt unangreifbar wirken, selbst wenn er statt Bällen nur die Fragen der Journalisten an sich und seinem Panzer abprallen lässt. Dabei weiß Lehmann intuitiv, dass er sich seiner Schwächen bewusst sein muss, um wirklich stark zu sein. Einmal gibt er das sogar zu, als er sagt, er hoffe, „dass ich beim ersten Spiel ein bisschen nervös sein werde. Sonst bin ich nicht so gut.“

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