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Sport: Kämpfende Künstler

Warum Hertha BSC froh ist, dass heute in der Partie beim 1.FC Kaiserslautern Ästhetik und Kreativität nicht gefragt sind

Von Sven Goldmann

und Michael Rosentritt

Berlin. César Luis Menotti hat einmal gesagt: „Fußball hat dieselbe Funktion in der Gesellschaft wie andere Ausdrucksformen der Kunst: ein guter Film, ein gutes Lied, ein gutes Bild.“ Kann es vor dem Hintergrund der derzeitigen Leistungen von Hertha BSC ein Zufall sein, dass die Vereinshymne von Frank Zander gesungen wird?

Schöner und erfolgreicher Fußball ist ein Traum. Menotti hat ihn sich in seiner langen Karriere gerade ein Mal verwirklicht, 1978 bei der WM in seiner Heimat Argentinien. Gemeinhin werden große Erfolge weniger durch Ästhetik denn durch Zweckmäßigkeit erzielt. Bayern München steht als Beispiel dafür, aber auch der AC Mailand unter dem Strategen Arrigo Sacchi. Den Mangel an Ästhetik empfindet niemand als störend, solange der Erfolg da ist. Zur Not verzeihen die Fans auch noch unglücklich zu Stande gekommene Misserfolge, wenn denn zumindest die Schönheit des Spiels gepflegt wurde. Hier liegt das Problem von Hertha BSC: Die Berliner, ausgestattet mit dem vermeintlich besten Kader aller Zeiten, quälen sich uninspiriert von Enttäuschung zu Enttäuschung. Daran ändert auch der Einzug ins Achtelfinale des Uefa-Cups nichts. Dieser war nicht durch kreativen, intelligenten Fußball möglich geworden, sondern durch eine (zugegeben von Charakter zeugende) Abwehrschlacht. Herthas Spiel prägten Dick van Burik, Pal Dardai oder Marko Rehmer, deren Qualitäten nicht gerade im kreativen Bereich liegen. Der mit Abstand beste Berliner war Torhüter Gabor Kiraly, der trotz schwerer Beckenprellung durchhielt und heute womöglich in Kaiserslautern wieder spielen kann. Am Vormittag entscheidet sich bei Hertha, ob er fit genug ist. Ansonsten wird Christian Fiedler im Tor stehen.

Was ist nur los mit den Berliner Kreativkräften? Der Brasilianer Marcelinho fällt nur noch durch seine blondierten Haare auf. Sein letztes Tor hat er vor zwei Monaten in Cottbus geschossen. Wenn Marcelinho an guten Tagen als die Seele des Spiels gilt, so darf man den Berlinern seit Wochen seelenloses Spiel attestieren. Das mag daran liegen, dass nicht alle verstehen, was dem Trainer vorschwebt. Huub Stevens spricht gern von Balance und Organisation. Das interpretiert die Mannschaft offensichtlich anders als der Trainer. Marcelinho schießt die Ecken, die Freistöße, die Tore, und er gibt auch die Vorlagen zu Toren. Mit Balance hat das ungefähr so viel zu tun, wie der Einsatz von 26 verschiedenen Spielern nach zwei Dutzend Spielen als Zeichen von Vertrauen und Konstanz zu werten ist. Bei Hertha kann sich derzeit niemand sicher sein, dass er spielt – oder dass er nicht spielt. Als Stevens vor zwei Wochen Bartosz Karwan für die Startelf nominierte, war davon niemand so überrascht wie Karwan selbst. Eine Woche später spielte er erneut von Anfang an – bei den Amateuren gegen den FC Schönberg.

Stevens hat bei seinem vorherigen Arbeitgeber Schalke 04 vorrangig eine Elf in Auswärts- wie in Heimspielen aufs Feld geschickt. Abweichungen waren die Ausnahme. Bei Hertha lässt er die Mannschaft rotieren. Noch nie in dieser Saison haben die Berliner zwei aufeinander folgende Spiele in identischer Aufstellung bestritten. Das fördert in den seltensten Fällen das Selbstvertrauen. „Wir ziehen uns zu weit zurück und machen nach vorne zu wenig“, sagt Josip Simunic. Herthas Offensive darf wohlwollend als schüchtern bezeichnet werden. Alex Alves hat in dieser Saison zwei Bundesligatore erzielt, Michael Preetz eins, Luizao keins.

Da trifft es sich gut, dass Hertha heute in Kaiserslautern spielt. Wenn es einen Platz gibt, auf dem schönes Spiel tabu ist, dann ist das der Betzenberg. In Berlin kämpft man um Reputation, in Kaiserslautern um die Existenz. Das erhöht den Druck auf Hertha. Ein Sieg beim Vorletzten gilt als Pflicht, und mag er noch so unansehnlich zu Stande kommen. Nichts ist so attraktiv wie der Erfolg, und mag er auch von Frank Zander besungen werden.

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