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Plötzlich Spielmacher. In Deutschland war Chris Mohr Amateurhandballer, nun spielt er bei Olympia mit.

© privat

Kannst du auch werfen?: Chris Mohr: Deutscher Handballer im britischen Trikot

Weil Handball in Großbritannien keine Tradition hat, wurde eine Mannschaft aus Fußballern, Basketballern und Footballspielern zusammengecastet. Auch ein Deutscher hat es ins Team geschafft.

Am Anfang steht eine E-Mail. Es ist 2006, Chris Mohr sitzt vor seinem Computer. Im Internet stößt er auf eine Seite, die ihn träumen lässt. Nachdem London den Zuschlag für die Olympischen Spiele 2012 erhalten hat, startet der britische Sportverband seine Suche nach jungen Männern mit britischen Wurzeln, die eines Tages das zu diesem Zeitpunkt nicht existente Handball-Nationalteam bilden sollen. Sie sollen zwischen 16 und 25 Jahre alt und mindestens 1,90 Meter groß sein. „Sporting Giants“ heißt das Programm, das sich der Verband mehr als vier Millionen Euro kosten lässt. Chris Mohr, aufgewachsen im hessischen Dreieich, Landkreis Offenbach, Sohn einer schottischen Mutter und eines deutschen Vaters, Oberliga-Handballer in der A-Jugend der TSG Bürgel, schickt eine Bewerbungsmail ab. „Allzu große Hoffnungen habe ich mir nicht gemacht“, sagt er. Zu Unrecht: Direkt am nächsten Tag erhält Mohr eine Antwort. Der 16-Jährige wird zum ersten Sichtungslehrgang eingeladen.

Sechs Jahre später ist aus dem Jugendlichen ein junger Mann geworden, der am Telefon freundlich Auskunft erteilt. Mohr erzählt von seinem Umzug nach Dänemark, von seiner Freundin – und vom Höhentrainingslager in Serbien, wo er sich im letzten Trainingslager mit der Nationalmannschaft befand. Ihm ist die Olympiateilnahme nicht mehr zu nehmen. Wenn die britische Auswahl in ihrem Auftaktspiel am Sonntag auf den amtierenden Weltmeister Frankreich trifft (20.30 Uhr), wird Chris Mohr das Team anführen. Der 1,93-Meter-Mann ist auf der Rückraummitte beheimatet, der Spielmacherposition. Ob er angesichts der großen Namen, die ihm gegen Frankreich begegnen werden, nervös ist? „Nervosität ist das falsche Wort“, sagt Mohr. „Ich freue mich. Die Teilnahme an den Spielen ist der Lohn für all den Schweiß, die Lehrgänge und die Strapazen.“

Mohr ist einen weiten Weg nach London gegangen, hat Dutzende Lehrgänge und Fitnesstests absolviert, jetzt gehört er als einer von sieben im Ausland geborenen Spielern zum britischen Kader, der vom serbischen Trainer Dragan Djukic verantwortet wird. Großbritannien hat für die Spiele viele Athleten eingebürgert. Beim Handballteam war die Quote besonders hoch, weil die Sportart auf der Insel einen Stellenwert genießt wie Dart in Deutschland – sie ist praktisch nicht existent. 2012 nehmen zum ersten Mal in der Olympiageschichte britische Teams am Handballturnier teil, weil der Gastgeber automatisch qualifiziert ist. Die Verantwortlichen beim Verband mussten binnen weniger Jahre eine einigermaßen konkurrenzfähige Mannschaft zusammenzustellen. Sie suchten weltweit. Und fanden Leute wie Chris Mohr.

„Ich habe früh gemerkt, dass es bei mir nicht für die deutsche Nationalmannschaft reichen würde“, sagt er. „Aber ich hatte diesen Traum, von Olympia. Deshalb habe ich mich für Großbritannien entschieden und bin die Sache mit der notwendigen Ernsthaftigkeit angegangen.“

Im Gegensatz zu Mohr hielten das nicht alle Bewerber so. Einmal bewarben sich elf Leute um den Posten als Nationaltorhüter. Trainer Dragan Djukic beäugte die Männer kurz und schickte drei von ihnen direkt wieder nach Hause. „Die mussten sich nicht mal umziehen“, sagt Mohr. Diagnose: stattlicher Bierbauch.

Als das britische Olympia-Team vor dem Aus stand, kam die Rettung aus Deutschland

Überhaupt waren die ersten Trainingseinheiten anders. „Wir haben teilweise mit absoluten Basics angefangen“, sagt Mohr, der als ehemaliger Oberliga-Handballer in Deutschland gute Voraussetzungen mitbrachte. Seine neuen Teamkollegen waren zwar nicht weniger athletisch als er, aber sie hatten nie vorher Handball gespielt, wussten nicht, wie man den Ball platziert wirft. Der heutige Linksaußen? Ehemaliger Basketballer. Der Torwart? Stand früher mal beim Fußball im Tor. Der Kreisläufer? Hat mal American Football gespielt und wurde wegen seiner Statur direkt an den Kreis beordert. „Es gab schon sehr skurrile Situationen“, sagt Mohr. „Aber mit der Zeit hat sich die Mannschaft enorm entwickelt.“ Nachdem die ersten Bewerber durch das Raster gefallen waren, wurden im Jahr 2008 die besten Spieler auf eine Sportakademie ins dänische Aarhus geschickt. Dort trainierten sie bis zu sieben Mal in der Woche, zunächst allerdings ohne zählbaren Erfolg. „Am Anfang haben wir ein Testspiel gegen einen dänischen Fünftligisten verloren“, sagt Mohr. Weitere Niederlagen gegen Handballzwerge wie Australien oder die Faröer Inseln ließen grundsätzliche Zweifel am Projekt aufkommen. Ende 2008 kürzte der britische Verband die finanzielle Förderung, das Unternehmen Olympia stand kurz vor dem Aus. Rettung kam aus Essen.

Dort hatte der traditionsreiche Bundesligist Tusem Ende 2008 gerade einen Antrag auf Insolvenz gestellt. Der Verein suchte günstige Spieler, Chris Mohr und seine Landsleute suchten einen Verein, in dem sie Spielpraxis sammeln konnten – was lag da näher als eine Kooperation? „Die drei Monate in der Bundesliga haben uns extrem zusammengeschweißt und sportlich vorangebracht“, sagt Mohr. Nach ihrer Zeit in Deutschland kehrte das Team nach Aarhus zurück. Die Sportakademie bot ihnen eine Beschäftigung an, um den weiteren Aufenthalt finanzieren zu können. Mohr und seine Kollegen arbeiteten an der Schule und suchten sich einen Verein. Seit 2010 spielen sie beim Zweitligisten in Aarhus.

Ob die britische Handballauswahl die Rolle des krassen Außenseiters widerlegen kann, muss bezweifelt werden. Die Vorrundengruppe hat es in sich: Weltmeister und Olympiasieger Frankreich, Schweden und Island, der Silbermedaillengewinner von Peking, spielen in einer anderen Liga. „Tunesien und Argentinien können wir schlagen, wenn alles optimal läuft“, sagt Mohr. „Schließlich haben wir 5000 Leute, die uns anfeuern werden.“

Von Vorteil ist die überschaubare Erwartungshaltung. „Wir haben nicht den großen Druck“, sagt Mohr. Platz vier, der zum Einzug ins Viertelfinale berechtigt, wäre ein mittleres Wunder. Aber auch ohne sportlichen Erfolg wird die Story von dem Casting-Team nicht in Vergessenheit geraten. „Sie wird in die britische Olympiageschichte eingehen“, sagt Andy Hunt, Chef de Mission der britischen Olympiamannschaft. Chris Mohr sieht es ähnlich: „Egal wie es auch ausgehen mag – in ein paar Jahren wird man von uns als Pioniere des britischen Handballs sprechen.“

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