zum Hauptinhalt
1972 in Heidelberg wurden noch andere Rollstühle benutzt

© Stadtarchiv Heidelberg,Christoph Dressler

Kein leichter Weg: Behindertensport im Wandel der Zeit

Von Kriegsversehrten, Spitzensportlern und demografischem Wandel: Die Geschichte des deutschen Behindertensports.

Die Kurve steigt erst ganz langsam an, wie bei einer gemütlichen Wanderung im Hügelland, dann wird sie ambitionierter, erreicht also das Mittelgebirge. Doch ihr Ende ist – pünktlich zum Jubiläum – eine Steilwand für Hochleistungskletterer. In dieser Kurve hat sich die Mitgliederzahl des Deutschen Behindertensportverbands (DBS) in seinen 60 Jahren von 1951 bis heute entwickelt. Und sein Präsident Friedhelm Julius Beucher formuliert: „Wenn ein Verband innerhalb von zwei Jahren um 106 000 Mitglieder wächst, muss man auch mal positive Ursachenforschung betreiben.“

Am besten also vorne anfangen, 1951, als der Verband noch einen anderen Namen trug: Arbeitsgemeinschaft Deutscher Versehrtensport, kurz ADV. Und als er eine bestimmte Zielgruppe erreichen wollte: die Kriegsverletzten. Das Selbstverständnis veränderte sich im Laufe der Jahrzehnte, Unfallopfer und Menschen mit einem Handicap von Geburt an rücken in den Mittelpunkt. Der Wandel schlägt sich auch im Namen nieder. Über den Umweg Deutscher Versehrtensportverband bildet sich 1975 der Deutsche Behindertensportverband heraus. Da strebt er schon auf die Marke von 100 000 Mitgliedern zu. Die Entwicklung nimmt jedoch an Fahrt auf, als auch der Leistungs- und Wettkampfgedanke mehr und mehr Bedeutung bekommt. Aus dem Behindertensport wird eine große Bewegung.

Die Paralympischen Spiele nähern sich immer mehr den Olympischen Spielen an, bis sie Ende der Achtzigerjahre miteinander verbunden werden. Die Spiele von Seoul 1988 sind ein Durchbruch. Von da an finden Olympia und Paralympics immer am selben Ort statt. Der DBS ist zugleich auch das Nationale Paralympische Komitee für Deutschland. „Vor 20 Jahren wussten manche noch nicht einmal, wie man Paralympics buchstabiert, heute können sie Athleten namentlich nennen“, sagt Friedhelm Julius Beucher, der früher Vorsitzender des Sportausschusses des Deutschen Bundestags war. Paralympische Sportler sind keine anonymen Behinderten mit Mitleidsgeschichte mehr, sondern manchmal sogar Prominente, die etwas Herausragendes geleistet haben: der Skifahrer Gerd Schönfelder etwa. Die querschnittgelähmte Schwimmerin Kirsten Bruhn oder die blinde Skilangläuferin und Biathletin Verena Bentele. Bei den Paralympics in Vancouver 2010 gewann Bentele insgesamt fünf Goldmedaillen und wurde dafür im vergangenen Jahr mit dem Medienpreis „Bambi“ in der Kategorie Sport ausgezeichnet.

Heute benutzt der Leichtathlet Marc Schuh diese moderne Gefährt.
Heute benutzt der Leichtathlet Marc Schuh diese moderne Gefährt.

© Stadtarchiv Heidelberg,Christoph Dressler

Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten: In der Vergangenheit war der DBS von einigen finanziellen Rückschlägen betroffen. So hatte er sich beispielsweise 2005 bei Telefonkartengeschäften verhoben. „Der Verband hatte organisatorische Schwierigkeiten“, sagt Beucher heute, „aber er hat sie auch mit der Solidarhilfe des Deutschen Fußball-Bundes überwinden können.“ Aus seinen Erlösen aus der Fußballweltmeisterschaft 2006 ließ der Fußball-Bund dem DBS damals eine Million Euro zukommen. „In unserem Jubiläumsjahr verfügen wir über mehr Sponsoren denn je, aber mit Blick auf die Angleichung der Verhältnisse ist noch deutlich mehr möglich“, sagt Beucher. Das ist schließlich das Ziel des DBS, die Bedingungen für behinderte Sportler immer mehr denen der nichtbehinderten Athleten anzugleichen.

Einiges hat er dabei schon erreicht. Viele paralympische Athleten können immer professioneller trainieren. Es gibt ein paralympisches „DBS Top-Team“ und besondere Förderung durch die Stiftung Deutsche Sporthilfe. „Es ist schön, dass die Sporthilfe zu unseren großen Unterstützern gehört, aber in Sachen Gleichbehandlung geht noch viel mehr“, erklärt Beucher. Die Prämien für einen Paralympics-Sieg (4500 Euro) und einen Olympiasieg (15 000 Euro) liegen noch ein gutes Stück auseinander. Beuchers anderer großer Wunsch ist eine größere Aufmerksamkeit in Zeitungen, im Radio und im Fernsehen für die Wettkämpfe der Behinderten, nicht nur für Paralympics, sondern auch für Welt- und Europameisterschaften und Weltcups.

Doch freuen kann sich Beucher vor allem über die Mitgliederentwicklung. Von 2006 bis 2010 stieg die Zahl der Mitglieder von 380 000 auf 575 000. In mehr als 5600 Vereinen in Deutschland arbeiten zusammen über 30 000 Übungsleiter. Der DBS ist inzwischen zum neuntgrößten Sportverband der Bundesrepublik geworden. Dieser Trend werde noch weitergehen, sagt der Präsident, „gerade in einer Gesellschaft, in der die Menschen – zum Glück – immer älter werden, in der aber auch altersbedingte Einschränkungen auftreten.“

Auf den Mitgliederzuwachs will der Deutsche Behindertensportverband reagieren, mit Angeboten für alle Altersklassen, beim Nachwuchs angefangen. Inzwischen gibt es „Jugend trainiert für Paralympics“, allerdings erst für die Sommerspiele, die Winterspiele sind das nächste Ziel.

Bei den Feierlichkeiten zum 60-jährigen Bestehen am 8. und 9. September in Berlin geht es auch um die Historie – und den Blick nach vorn. Die Angebote sollen breiter werden, jeder soll sein persönliches Leistungsniveau finden und davon profitieren, was der Sport alles leisten kann, sagt Beucher: „Der Sport holt auch Menschen nach Unfällen zurück ins Leben und hilft, Selbstbewusstsein neu zu lernen.“ Selbstbewusstsein, dass musste sich auch der Deutsche Behindertensportverband in den vergangenen 60 Jahren erarbeiten.

Zur Startseite