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© dpa

Kiez trifft Moderne: Die Anzugträger vom FC St. Pauli

Der traditionsbehaftete Zweitligist aus Hamburg hört auf, anders zu sein – ähnlich wie der Stadtteil, in dem er zu Hause ist.

Von Katrin Schulze

Die Karussells drehen sich im Nieselregen um die Wette. Dazwischen warten dick eingepackte Los- und Süßigkeitenverkäufer in ihren Buden auf Kundschaft. Es blinkt und glitzert in allen Farben – der Dom hat sich breitgemacht auf dem Heiligengeistfeld im Hamburger Stadtteil St. Pauli, das größte Volksfest des Nordens. Hinter der großen Achterbahn versteckt sich an diesem grauen Tag das Millerntor-Stadion. Hier auf der Gegengerade stehen die treuesten Fans des Fußballklubs, hier wurde in den Achtzigerjahren eine Art Legende gesponnen. Manche sagen auch ein Mythos. „Der Mythos des FC St. Pauli lässt sich nicht in einem Satz erklären. Man braucht Zeit, um wirklich zu verstehen, wo man sich hier befindet“, hat Holger Stanislawski, früherer Spieler und jetziger Trainer des Klubs, einst gesagt. „Für mich ist dieser Prozess bis heute noch nicht abgeschlossen.“

Keine Frage, der FC St. Pauli lebt heute noch von seinem Ruf als etwas anderer Verein, der von einer alternativen Fanszene getragen wird und sich selbst unter dem Zeichen des Totenkopfs gerne in der Rolle des Freibeuters, des Underdogs, sieht. Die Frage ist nur, ob er dieses Image heute selbst noch lebt. Ein Jahr vor dem hundertjährigen Jubiläum steht der Verein vor seinem Heimspiel gegen den 1. FC Union am Sonntag sportlich so gut da wie lange nicht mehr und finanziell so gut wie noch nie. Mehr als eine Million Euro hat er im vergangenen Geschäftsjahr an Gewinn eingefahren. „Uns geht es in jeder Hinsicht bestens – wirtschaftlich, sportlich und auch sonst“, sagt Corny Littmann auf der Mitgliederversammlung im Hamburger Kongresszentrum Mitte November. St. Paulis Vereinspräsident schüttelt an diesem Abend viele Hände, er selbst repräsentiert die Kultur des Hamburger Stadtteils, ist Theaterbesitzer und Unternehmer.

Doch verträgt die zunehmende Professionalisierung und Modernisierung von St. Pauli so viel Andersartigkeit? Hält der individuelle Anspruch des Klubs der Kommerzialisierung des Fußballs stand? Kaum ein anderes Objekt steht derzeit so symbolisch für den Spagat des FC St. Pauli wie seine Heimspielstätte selbst. Während die Klinker des Hauptgebäudes an der neuen Südtribüne mondän glänzen, liegt die Haupttribüne des Millerntor-Stadions buchstäblich in Schutt und Asche – sie ist seit Kurzem bereit für den Neubau. Nach und nach, Seite für Seite, wird das Millerntor zu einer modernen Fußballarena. „Der Umbau hat für die Fans zwei Seiten“, erzählt Justus Peltzer. „Sie wissen, dass es sein muss, da das Stadion teilweise schon marode war. Andererseits gibt es dann auch Business-Seats und Logen.“ Nichts anderes also als in den anderen neu geschaffenen Einheitsarenen dieses Fußballlandes.

Justus Peltzer ist Mitarbeiter des „Fanladens“, der unweit des Stadions in der Brigittenstraße sein Zuhause hat. Das Astra-Bier gibt es hier noch für 1,50 Euro, ein Bremer Konkurrenzprodukt kostet 1,80 Euro. Der „Fanladen“ versteht sich als unabhängiger Vertreter und kritischer Beobachter des FC St. Pauli. Peltzer selbst geht seit 1991 zu den Spielen seines Lieblingsvereins und hat beobachtet, dass viele Besucher in der jüngsten Vergangenheit gerade „wegen des besonderen Rufs“ ins Millerntor-Stadion strömen. „Die wollen sich ansehen, wie kultig das ist und was hier so besonders ist. Früher war das Stadion selten ausverkauft, inzwischen kommt man nur schwer an Tickets heran.“

Die Tickets werden heute von anderen Zuschauern gekauft als früher. Der Hort der linken Subkultur, dessen Vertreter sich auf der Gegengeraden Gehör verschafften und auch politisch positionierten, ist erwachsen geworden und hat eher untypischen Zuwachs bekommen. „Früher kamen viele Arbeiter, zum Beispiel die vom Hafen“, sagt Sven Brux, der seit 1987 der St. Pauli-Fangemeinde angehört. „Heute kommen viele Leute mit Universitätsabschluss zu uns.“ Klamotten, die Menschen als St. Pauli-Anhänger kennzeichnen, kauften die Fans früher in einem mit Graffiti beschmierten Container vorm Stadion, an dem das Symbol des Klubs, der Totenkopf, in Übergröße prangte . Heute gibt es den weißen Totenkopf auf schwarzem Untergrund nur noch als Zeichen auf den Kleidungsstücken – und zwar im Fanshop, der in das neue Gebäude an der Südtribüne gezogen ist.

Die zum Verkauf stehenden Klamotten wirken in dem modernen Shop, in dem die einzelnen Lichtkegel präzise aufeinander abgestimmt zu sein scheinen, ein bisschen deplatziert. Zwischen ihnen hängen T-Shirts und Jacken mit dem Aufdruck „Die Straße trägt St. Pauli“. Die Straße wird gerade von einem jungen Mann im schwarzen Anzug und akkurat gegeltem Haar repräsentiert. Er schält sich aus seinem Jackett und stülpt sich eine braune Fanjacke über sein hellblaues Hemd. Anzugträger, Banker und Geschäftsführer gehören zum Bild des heutigen FC St. Pauli. Sie ziehen sich den Mythos über, verkörpern können sie ihn aber nicht.

In gewisser Weise ist das tatsächlich Gesetz der Straße. Denn der Verein im Schoße des Kiezes entwickelt sich im Gleichschritt mit seinem Standort. Aus dem Arbeiterviertel, das einst von der Individualität und Kreativität seiner Einwohner lebte, ist ein moderner, eher einförmiger Bezirk geworden, aus dem die alten Bewohner zunehmend verdrängt werden. „Die Veränderung des Klubs geht einher mit der Veränderung des Stadtteils selbst“, sagt Sven Brux, ein großgewachsener, schlanker Mann. Brux stieg bei St. Pauli vom einfachen Anhänger zum Fanbeauftragten auf und ist mittlerweile Organisationschef des Vereins. Bei der Mitgliederversammlung im Kongresszentrum ist er einer der letzten Redner, er tritt nach vorne, um über die „Leitlinien des FC St. Pauli“ zu referieren und diese beschließen zu lassen. Die Anwesenden stimmen mit riesiger Mehrheit zu. Nachfragen? Keine. So viel Zuspruch lässt Brux strahlen – einerseits. Fast beiläufig sagt er dann aber einen Satz, der die Stimmung dieses Abends widerspiegelt wie kein anderer: „Was ist eigentlich aus diesem Verein geworden?“ Brux meint das spaßig und doch enthält der Satz jede Menge Wahrheit. Keine Debatten, keine Nachfragen, dafür viel Stille und viel Abnicken. Ja, was ist denn eigentlich aus diesem Verein geworden?

In Zeiten, in denen der Klub um den Aufstieg in die Bundesliga spielt, gibt es nicht viel zu meckern, zu diskutieren, zu rebellieren. „Vor zehn Jahren hätte es so eine Mitgliederversammlung nicht gegeben“, sagt Justus Peltzer vom „Fanladen“. Der Mythos trägt einen kleinen Schatten mit sich. Doch bei aller Veränderung erkennt Peltzer durchaus Positives. „Die Fans haben immer noch viel mehr Mitspracherecht als bei anderen Vereinen“ sagt er.

Und auch sonst ist bei St. Pauli immer noch einiges anders als andernorts. Ein Maskottchen oder ein ausschweifendes Showprogramm gibt es bei Spielen nicht – es geht beim FC St. Pauli immer noch um Fußball und nicht um Klamauk. „Wir wollen der Kommerzialisierung Einhalt gebieten“, sagt Cheforganisator Sven Brux. Der Verein aus dem Hamburger Kiez setzt sich bewusst von vielen anderen Profiteams ab, aufhalten kann aber auch er die Modernisierung im Fußball nicht. Die Karussells auf dem Volksfest neben dem Millerntor-Stadion drehen sich unaufhörlich weiter.

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