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Sport: Klappe, Becker-Abschied, die Zweite

LONDON . Es ist, als habe dem großen, unsichtbaren Regisseur die Szene beim ersten Mal nicht gefallen, vor zwei Jahren, hier auf dem Centre Court.

LONDON . Es ist, als habe dem großen, unsichtbaren Regisseur die Szene beim ersten Mal nicht gefallen, vor zwei Jahren, hier auf dem Centre Court. Also Klappe, Boris-Becker-Abschied, die Zweite. Diesmal mit Herz, Schmerz und den großen Gefühlen. So geht der Mann noch einmal los, nach seinem letzten Match. Und tatsächlich fällt ihm nun bei der Wiederholung alles sichtlich leichter, die Verbeugung vor dem Publikum und der königlichen Box, das Winken zu seinen treuesten Fans auf den Stehrängen, das Schultern der Tasche, der letzte Blick zurück in den heiligen Tennis-Tempel, der Abgang.

Am 30. Juni 1999 hat Boris Becker den leichten Abschied nach dem schweren Abschied vom Tennis genommen. Als sich die Szene auf dem heiligsten aller Tenniscourts schon einmal vor zwei Jahren, am 2. Juli 1997, fast so ähnlich abspielte, hatte sie dramatischere Züge. Und nichts von jener Entspanntheit und Gelassenheit, die Boris Becker am Mittwoch um 14.54 Uhr deutscher Zeit, in Wimbledon ausstrahlt, nach dem Achtelfinal-Tiefschlag gegen Australiens Patrick Rafter. Damals, sagt Becker heute, "war es ein Einschnitt, ein Schock". Er war wie ein Artist, der auf dem Hochseil seiner Existenz ohne Netz balancierte. Er erinnert sich, "daß die Angst vor dem Morgen groß war, die Angst, ohne Tennis nichts Richtiges auf die Beine zu kriegen".

Die letzten beiden Jahre hat er ich selbst eines Besseren belehrt. Was in der Öffentlichkeit als wirre Wandertour im Tenniszirkus, als konfuses Lust-und-Laune-Tennis eines Teilzeitprofis wahrgenommen wurde, war in Wahrheit nur der langsame, zähe Drogenentzug eines Junkies, der zuvor 13 Jahre lang "Tennis geatmet, gerochen, gefühlt und gegessen hatte". In der Übergangszeit vom professionellen Tennis-Egomanen mit Tunnelblick, der alles beiseiteschiebt, was links und rechts seiner krass verengten Wahrnehmung passiert, zum lässigen Gelegenheitsspieler ist Becker auch zum Realisten geworden, der erkannt hat, "daß ich nichts mehr so gut können werde wie Tennisspielen". Er sagt dies gut eine Stunde nach dem Fallen des Vorhangs drüben im Tennis-Theater von Wimbledon, im "Deutschen Haus" in der Burghley Road, als sich ein letztes Mal die Runde der Reporter zur "blauen Stunde" mit ihm versammelt hat.

Die Gefühle eines hartumkämpften Fünf-Satz-Fights in New York, Paris oder Wimbledon kann Becker nicht mehr zurückholen, und er weiß es: "Dieser ganze Lebensstil, diese Emotionen eines Weltklasseathleten vor tausenden Zuschauern, das ist einmalig und mit nichts zu vergleichen". In seinem zweiten Leben, das im Grunde schon vor zwei Jahren und nicht mit dem verwandelten Matchball des sympathischen Kollegen Patrick Rafter begonnen hat, will Becker sich "bescheidenere Ziele" stecken, ohne seinen ausgeprägten Ehrgeiz ganz zu verlieren: "Ich will auch neben dem Centre Court einer sein, der seine Arbeit gut macht, der an der Spitze steht". Aber eben nicht mehr als Nummer eins oder Nummer fünf der Welt.

Keine Tränen nach dem letzten Gang. Eher ein innerer Friede, "aus diesem Geschäft heil rausgekommen zu sein". Becker sagt, er habe seinen Standort gefunden: "Ich habe klare berufliche Ziele". Und eine Vision, "wo ich mit 40 sein will". Nur verraten will er das nicht. Ein neuer Zeit- und Arbeitsrythmus soll ein altes Dasein ablösen, das Becker an den "Hamster in der Tretmühle" erinnerte: "Ich will mich nicht weiterdrehen ohne Sinn und Verstand."

Nun kokettiert Becker mit dem Gedanken, "daß ich die Freiheit habe, morgens im Bett liegenbleiben zu können". Dieses "Gut" hat sich der charismatische Querkopf in den 15 Jahren seiner Laufbahn hart erarbeitet. Becker schaut auf die virtuelle Rechnung seiner Karriere und sagt: "Was ich erreicht habe, kann mir keiner mehr nehmen. Basta". Den jungen Wilden im deutschen Tennis wie Kiefer oder Haas hält er entgegen: "Wenn sie einmal einen Grand Slam gewonnen haben, können sie mich mit etwas mehr Autorität attackieren".

Die "Sportart Becker" ist nun Geschichte. Es war eine Disziplin ohne Grenzen. Becker im Tennis, das war war immer mehr als Tennis. "Ich habe meine Seele auf dem Platz abgeladen, mein Innerstes nach außen gekrempelt", sagt Becker. Die Faszination seiner ewigen Suche nach sich selbst, auf und neben dem Tennisplatz, hat selbst seriöse Schriftsteller in schieres Entzücken versetzt. Das Gleichnis des Literaten Martin Walser ist unvergessen: "Wenn Tennis eine Religion ist, dann ist Boris Becker ihr Gott". Große Worte sind längst vor Beckers letztem Hurra gefallen. Beckers Ex-Manager Ion Tiriac sagt entschlossen: "Auf dieser Welt gibt es keinen anderen Deutschen, der so bekannt und beliebt ist wie Boris". In der "Times" hieß es auf dem Höhepunkt der Becker-Stich-Rivalität, einmal: "Becker lieben die Deutschen, weil sie so sein möchten wie er. Stich mögen sie nicht, weil er so ist wie sie".

Der neue Becker wird so unverwechselbar sein wie der alte Becker. Sein Privatissimum wird privater sein, auch wenn er sich "natürlich zu Wort melden wird, wenn es mich danach drängt". Becker wäre gut beraten, wenn er sich rarer machen würde. Denn an einer Verknappung des Produkts Becker hat in den letzten Jahren kein Mangel bestanden. Der Profisport mit seinen brutalen Verwerfungen hat ihn zum Egozentriker geformt, eine Branche, in der Becker, wie er selbst sagt, der Chef des "schlimmsten Wolfsrudels unter der Sonne" war. Er hat Berater und Trainer geheuert und gefeuert, hat Freunde brüskiert - immer dann, wenn er glaubte, es nütze ihm.

Seine neue Welt funktioniert nicht nach den Gesetzen des Tennis. Noch hat Becker das nicht in all seiner Schärfe begriffen. Er will noch immer alleine mit dem Kopf an die Wand. Dabei hat er sich schon Beulen und blaue Flecken eingehandelt. Seinen Versuch, eine neue weltweite Tennisserie mit Hilfe des Kirch-Konzerns zu etablieren und ins Pay-TV zu lancieren, scheiterte mit Grandezza. Trotz aller Gerissenheit im Business-Betrieb kann sich Becker noch nicht vom eigenen Illusionstheater verabschieden. Streitigkeiten mit dem Deutschen Tennis-Bund, Aufstand im Davis Cup-Team? Becker lächelt einen Moment versonnen, dann reißt er die Augen weit auf und sagt: "Alles Muppet-Show. Im Präsidium stehen alle hinter Charly Steeb, dem Kapitän, und mir".

Den Tennisspieler Boris Becker gibt es nicht mehr. Aber angekommen auf der anderen Seite ist er auch noch nicht. Schon gar nicht am Nachmittag seines letzten Wimbledon-Tages. Instinktiv will Becker in alte Routine verfallen, zurück ins Hotel, um "sich zu stretchen und eine Massage zu kriegen". Doch dann fällt ihm ein, "daß ich das jetzt gar nicht mehr brauche". So schnappt er sich eine Flasche Becks und sagt: "Prost".

JÖRG ALLMEROTH

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