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Witali, 39, (links) und Wladimir Klitschko, 35, (Mitte), gehören zu den erfolgreichsten Boxern im Schwergewicht. Am 16. Juni läuft in den Kinos die Dokumentation „Die Klitschkos“ an, darin sind die beiden mit ihrem Vater Wladimir Rodionowitsch (rechts) zu sehen.

© promo

Klitschko-Brüder im Interview: "Politik ist ein Kampf ohne Regeln"

Witali und Wladimir Klitschko sind vom 16. Juni an im Kinofilm "Die Klitschkos" zu sehen. Im Interview sprechen sie über die Lügen von Tschernobyl, die Zukunft der Ukraine und das verlorene Geld von Mike Tyson.

Witali und Wladimir Klitschko, wie passen Sie beide in einen Film?

WLADIMIR: Komisch, aber diese Frage haben wir uns auch gestellt, als wir vor zwei Jahren mit den Dreharbeiten begannen. Wir hatten dann auch sehr viel Filmmaterial beisammen, für 180 Filmminuten. So viel will niemand sehen. Also wurde diskutiert, was wir rauslassen.

Prallten nicht unterschiedliche Sichtweisen aufeinander? Einerseits ist es Ihr beider Leben, das verfilmt wird, andererseits sagt der Regisseur, was filmisch wichtig ist und funktioniert.

WLADIMIR: Ob Sie es glauben oder nicht, es gab keine Meinungsverschiedenheiten. Die Zusammenarbeit war vertrauensvoll. Das Hauptproblem war am Ende wirklich nur die Länge des Films. Im Take off gibt es noch ein paar Sequenzen, die nicht in den Film gekommen sind, aber trotzdem ziemlich cool und lustig sind.

Ihr Film kommt am 16. Juni in die deutschen Kinos. Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder Angebote für einen Film. Was gab den Ausschlag für das jetzige Projekt?

WLADIMIR: Stimmt, die Idee war lange da. Aber es gibt eben auch viele Dokus, die, wie ich finde, nicht so spannend sind. Wir haben lange überlegt, ob und mit wem wir einen Film realisieren. Wir haben einiges abgelehnt, bis wir das passende Team um Regisseur Sebastian Dehnhardt gefunden haben. Witali und ich hatten von Beginn an ein gutes Gefühl bei ihm. Das Drehbuch haben wir quasi gemeinsam entwickelt.

Wie muss man sich das Werkeln am Drehbuch vorstellen?

WITALI: Oh, es gab viel altes Material aus der Sowjetzeit, und wir haben viel aktuell gedreht. Immer wieder haben wir uns Gedanken gemacht, was rein muss und was zu vernachlässigen ist. Wissen Sie, man sieht die eigene Geschichte sehr kritisch. Man fragt sich: Interessiert das überhaupt jemanden? Im Rampenlicht versucht sich jeder darzustellen und den Rest für sich zu behalten. Genau der aber kommt in einem Dokumentarfilm an die Oberfläche. Das geht nur, wenn ein Grundvertrauen zum Regisseur existiert.

Wie ist es, sich selbst zu sehen?

WITALI: Der Film hat für meine Begriffe viel Inhalt und richtet sich nicht nur an Boxfans. Er zeigt den Traum von zwei Jungen. Und es war ein langer Weg bis nach oben, ein Weg mit vielen Hindernissen und viel Glück. Der Film ist sehr ehrlich.

Sie sagten eingangs, die Länge sei das Problem gewesen. Wir dachten, das größte Problem sei gewesen, Ihre Mutter zum Mitwirken zu überzeugen. Sie, die sonst nie in der Öffentlichkeit aufgetreten ist, wurde Teil dieses Films.

WITALI: Sie hat noch nie einen Boxkampf von uns live verfolgt, nicht mal im Fernsehen. Sie geht immer spazieren, wenn wir boxen und wartet dann auf den Anruf auf dem Handy.

Womit haben Sie also Ihre Mutter überzeugt?

WITALI: Das habe ich nicht geschafft. Fragen Sie meinen kleinen Bruder, er muss ein Geheimmittel haben...

... wir sind gespannt ...

WLADIMIR: Sie kennen das doch, der Jüngste hat immer ein paar Chancen mehr bei der Mutter. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel aus der Kindheit. Als ich mal was ganz Schlimmes getan hatte, wusste ich, dass mir der Po versohlt wird. Also dachte ich: Wenn der Vater abends kommt, wird es hart. Aber ich dachte auch: Wenn die Mutter das schon geklärt hat, wird Vater gnädig sein. Dann habe ich den Gürtel aus einer Hose meines Vaters genommen und bin damit zur Mutter gegangen. Ich sagte ihr, dass ich etwas Schlimmes gemacht habe, und dass es nicht richtig war. Ich gab ihr den Gürtel in die Hand, guckte in ihre Augen und sagte: So, und jetzt schlag zu. Und dann habe ich ihr noch mit Tränen in den Augen gesagt: Komm, schlag! Mach es! Und dann ist unsere Mutter eingeknickt.

Im Film ist auch etwas über Ihren Vater zu erfahren. Als Offizier war er 1986 beim Reaktorunglück in Tschernobyl im Einsatz...

WITALI: Als Kinder begriffen wir damals gar nicht, was los war. Es wurde versucht, alles zu verschleiern. Ich erinnere mich aber, dass viele Leute damals unsere Stadt verlassen wollten, die Bahnhöfe waren voll, und Wladimir, er war 10, sollte auch weg, mit anderen Kindern in ein Ferienlager – in Sicherheit ans Asowsche Meer.

Sie lebten damals in Kiew ...

WITALI: Unser Vater war zum Zeitpunkt des Unglücks in Kiew stationiert, es liegt etwa 100 Kilometer südlich von Tschernobyl. Ich war damals 14. Als ich vor ein paar Wochen die Bilder aus Japan gesehen habe, ist vieles wieder hochgekommen. Diese grausamen, bedrückenden Bilder zeigen, wie global dieses Problem ist. Das ist ein Tiefschlag für die Welt.

WLADIMIR: Uns wurde damals nicht die Wahrheit gesagt. Und dabei lag das radioaktive Zeug überall rum, so wie jetzt in Fukushima. Tschernobyl ist heute eine Geisterstadt. Das ist die Wahrheit.

Sagte Ihnen der Vater denn nichts?

WITALI: Alles war sehr geheim. Es hieß nur, ein großes Unglück sei geschehen. Und wir dürften das Haus nicht verlassen. Die Millionenstadt Kiew hatte damals nur das riesige Glück, dass der Wind in Nordrichtung blies. Weißrussland dagegen hatte Pech. Schlimm. Auch unseren Vater hat es erwischt. Er erkrankte später an Krebs, sehr wahrscheinlich eine Folge Tschernobyls. Aber er lebt wenigstens noch.

Haben Sie mehr vom Leben fürs Boxen gelernt, oder umgekehrt?

WLADIMIR: Es ist beidseitig, aber man lernt natürlich vom Boxen mehr fürs Leben. Wir haben durch diesen Sport eine Ausbildung erhalten, die wir an keiner Universität der Welt hätten bekommen können. Für uns heißt das: viel reisen, unterschiedliche Gesellschaftsformen kennenlernen, Erfahrungen austauschen, verschiedene Persönlichkeiten aus Politik, Philosophie, Kunst und Sport treffen. Es gibt nicht genug Finger an meinen Händen, um alles aufzuzählen. Und diesen Schatz nutzt man im Leben.

Witali, was ist denn härter: ein Boxkampf oder ein Wahlkampf? Sie kandidierten immerhin zweimal für das Amt des Bürgermeisters von Kiew.

Gute Frage. Ich erinnere mich, als ich mit dem Boxen anfing. Die erste Lehrstunde war hart. Ich wusste nicht, wie ich mich verteidigen konnte, ich kannte die Regeln nicht. Ich erinnere mich noch daran, dass ich nach Hause kam und Mutter die Tür aufmachte: „Oh nein“, rief sie. Ich hatte blaue Flecken, eine aufgeplatzte Lippe und eine blutige Nase. Das Wichtigste im Leben ist Erfahrung, egal in welcher Branche. Erfahrung kann man nicht aus Büchern bekommen, sondern muss sie selbst machen, durch das Erleben.

Sie wurden zum Vorsitzenden der neu gegründeten Partei „Ukrainische demokratische Allianz für Reformen“ (UDAR) gewählt.

WITALI: Da sehe ich meine Zukunft. Für Europäer ist die ukrainische Politik schwer zu verstehen. Die Ukraine ist ein junges Land, das in den letzten zwanzig Jahren, seit der Unabhängigkeit, versucht, eine Demokratie aufzubauen. Es gibt dabei viele Tiefschläge und noch einmal so viele Schläge in den Rücken. Wenn man es mit dem Boxen vergleichen will, dann ist Politik ein Kampf ohne Regeln.

Das müssen Sie uns erklären.

Sehen Sie, ich boxe seit 25 Jahren, heute kann ich mir erlauben, meine Hände im Boxring am Körper hängen zu lassen und die Fäuste zu ziehen wie ein Cowboy seine Pistolen. Ich weiß, was passiert, was mich erwartet. Ich kann mir vertrauen. In der Politik bin ich relativ neu. Mein Ziel bleibt aber: Die Ukraine gehört zu Europa: historisch, geografisch, wirtschaftlich und politisch. Leider ist die aktuelle Politik weit von Europa entfernt, wie auch der Lebensstandard. Ich möchte kein Besserwisser sein, aber ich weiß, dass man das ändern kann. Neben mir gibt es viele Menschen, die meine Gedanken teilen. Ich möchte nicht, dass das Fremde mit uns machen, das können wir selbst.

Und Sie Wladimir, wechseln Sie später mal ins Schauspielfach?

WLADIMIR: So, denken Sie das? Ich habe da keine Ambitionen. Ich habe zwar gern mitgespielt in „Keinohrhase“ und „Zweiohrküken“, und sehe auch, dass der Sport nicht für immer ist. Aber ich möchte noch nicht sagen, was ich machen werde. Ich weiß nur, dass ein Politiker in der Familie reicht.

Auch außerhalb des Rings sind Sie beide für Ihre Konsequenz bekannt. 2004 trennten Sie sich von Ihrem langjährigen Promoter und Manager Klaus-Peter Kohl. Heute vermarkten Sie sich selbst.

WITALI: Als wir uns von unserem Promoter trennten, gab es einen wesentlichen Grund dafür, der bis heute Gültigkeit besitzt: Jeder Boxpromoter verfolgt die eigenen Ziele. Das Interesse seiner Sportler steht nicht an erster Stelle, sondern seine geschäftlichen Interessen. Wenn man als Boxer Pech hat, folgen die Interessen des Sportlers auf Platz zehn. Es gibt viele Beispiele von Boxern, die Millionen verdienten und am Ende bankrott waren. Ich nenne nur Mike Tyson, der über 300 Millionen Dollar erboxt hat. Wo ist das Geld? Boxer kommen und gehen, Promoter bleiben, sie machen Geschäfte und verdienen an anderen. Wie heißt es: Kluge Leute lernen von den Fehlern anderer Menschen. Wir wollen nicht die gleichen Fehler machen wie andere. Wir haben unsere Karrieren in unsere Hände genommen, unsere Promotionfirma und mit der KMG eine Vermarktungs- und Management-Agentur gegründet – es funktioniert.

Sie wirken besonnen und ausbalanciert. Wie gelingt Ihnen das?

WITALI: Ich bin auch nicht immer ruhig, glauben Sie mir.

Womit kann man Sie denn reizen?

WITALI: Mich reizt, wenn mir Leute in die Augen schauen und mich dabei anlügen.

Beim Boxen oder in der Politik?

WITALI: In der Politik. Da ist es gar nicht so einfach, immer ruhig zu bleiben. Wir versuchen aber immer, unsere Emotionen unter Kontrolle zu haben.

Auch Ihre Fäuste?

WLADIMIR: Auch die. Ein Boxkampf ist eine hoch emotionale Angelegenheit. Die Kunst ist, kühlen Kopf zu bewahren. Auf emotionaler Ebene möchte David Haye gern die Sache klären.

... der Brite hält den WM-Gürtel des Verbandes WBA und ist am 2. Juli Ihr nächster Gegner...

Ja, und ich versuche es auf boxerischer, auf sporttechnischer Ebene. Es steht ja einiges auf dem Spiel in diesem Kampf. Da muss man die Emotionen außerhalb des Ringes lassen. Zu viele Emotionen im Ring produzieren Fehler. Denn Emotionen kommen zuerst, das Denken danach. Wenn man gewinnen will und langfristig Erfolg haben möchte, muss man Emotionen beiseite schieben.

Sie selbst mussten schon auf die Bretter, haben drei Kämpfe verloren...

... Sie sagen es. Daraus habe ich gelernt und bewiesen, dass der wenig emotionale Weg der bessere ist.

Wir kennen den „trash talk“ auf Pressekonferenzen, den Augenkontakt beim Wiegen und den inszenierten Einmarsch. Wie viel davon ist gespielte Feindseligkeit?

WLADIMIR: Ich glaube, das ist von Person zu Person unterschiedlich. Muhammad Ali zum Beispiel liebte das Entertainment – selbst während eines Kampfes. Ich erinnere mich, wie er in einem Kampf seinen Gegner immer wieder fragte: „Wie ist mein Name?“ Der Gegner antwortete: „Cassius Clay!“ Und Ali schlug und fragte wieder: „Wie ist mein Name?“ Er wollte Muhammad Ali hören. Das war sehr unterhaltsam. Bei mir reicht das Entertainment genau bis zum Boxring, dann wird es ernst.

Das Gespräch führte Michael Rosentritt.

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