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Gleich ist er drin: Lars Rickens legendärer Schuss im Finale 1997.

© dpa

Kolumne: Meine Champions League: Borussia Dortmund und der Rausch des Seitensprungs

Was war 1997 für ein Jahr für die Fußball-Fans im Ruhrpott! Ein Rückblick vor dem Gruppenspiel des BVB in der Champions League gegen Tottenham Hotspur.

Auf die internationalen Feiertage haben sie sich in Dortmund auch schon mal mehr gefreut. An diesem Dienstagabend geht es in der Champions League gegen Tottenham Hotspur – schön und gut, aber der schwarz-gelbe Stolz der Stadt hat gerade andere Sorgen, da passt es mit dem Besuch der lieben Gäste aus London nicht. Es hakt im Basisgeschäft Bundesliga. Ende September, nach einem 2:1-Sieg in Hamburg, thronte die Borussia in der Tabelle auf Patz 1, mit 21:2 Toren und 19 Punkten, stolze fünf vor den FC Bayern und, auch nicht ganz unwichtig, neun vor dem Lieblingsfeind FC Schalke 04. Lange her. In den fünf folgenden Spielen hat der BVB nur noch ein Pünktchen zusammengeklaubt und dabei 14 Gegentore kassiert. Die Bayern sind um neun Punkte enteilt und zu allem Unglück ist am Sonntag ist auch noch die revierinterne Konkurrenz aus Gelsenkirchen vorbeigezogen.

Das ist keine schöne Ausgangslage vor dem Derby am Samstag im Westfalenstadion. Ganze 40 Kilometer sind es von Gelsenkirchen nach Dortmund. 25 Minuten auf der A40, 34 Minuten mit der S-Bahn. Und doch trennt die beiden Städte ein unsichtbarer Graben der Abneigung. Für die Dortmunder ist Schalke Herne-West, die Schalker nennen Dortmund Lüdenscheid-Nord. Es ist auch mal ein Derby in Lüdenscheid gespielt worden, 2001 im Ligapokal (2:1 für Schalke). Auch eins in Herne. Das war 1947, im Endspiel um die Westfalenmeisterschaft, als die erfolgsverwöhnten Schalker 2:3 verloren.

Wer weiß schon noch, dass es mal eine kurze Phase der friedlichen Koexistenz gegeben hat. Gut zwanzig Jahre ist das her und hat seinen Ursprung in… Europa! Im Mai 1997, als das Ruhrgebiet Italien besiegt und über den ganzen Kontinent herrscht. Erst gewinnt Schalke in zwei Finalspielen gegen Inter Mailand den Uefa-Cup und kurz darauf der BVB gegen Juventus Turin die Champions League. Die Fans sind selig und rufen „Ruhrpott! Ruhrpott!“ Lagerübergreifende Glückseligkeit macht sich breit. Im Spiegel heißt es: „Der überraschende internationale Erfolg hat ein lang verschüttetes Ruhrpottgefühl neu aufleben lassen.“

„Willi, das Kampfschwein“ trifft gegen Inter

Alles beginnt am 7. Mai im alten Parkstadion. Mit einem 1:0-Sieg der Schalker über Inter, das Tor schießt der Belgier Marc Wilmots, den sie in Gelsenkirchen liebevoll „Willi, das Kampfschwein“ nennen. Das Rückspiel zwei Wochen später im San Siro von Mailand gestaltet Inter in der zweiten Halbzeit drückend überlegen, aber es reicht nur zu einem Tor kurz vor Schluss durch den Chilenen Ivan Zamorano. Weil in der Verlängerung kein Tor fällt, muss das Elfmeterschießen entscheiden, und in dieser Disziplin sind deutsche Mannschaften bekanntlich schwer zu schlagen. Alle vier Schalker treffen, dazu hält Torhüter Jens Lehmann Inters ersten Elfmeter von Zamorano. Der dritte von Aron Winter fliegt vorbei, und damit ist die Angelegenheit auch schon beendet. Schalkes Kapitän Olaf Thon reckt den Pokal in die Luft und die Fans schmücken ihre Mannschaft mit einem heute noch geläufigen Kampfnamen. Im kollektiven Vereinsgedächtnis sind die Spieler von 1997 die Eurofighter.

Dieser Triumph kam überraschend genug, aber geradezu sensationell ist es im Rückblick, dass die Schalker Spieler in der Woche darauf gemeinsam nach München zur Unterstützung des Lieblingsfeindes fliegen. Im Olympiastadion gibt dem BVB kaum jemand eine Chance gegen die von den Franzosen Didier Deschamps und Zinedine Zidane angeführte Juve. Auf dem Platz aber wirkt der Favorit zunächst wie gelähmt. Dortmund macht das Spiel und Karlheinz Riedle zwei schnelle Tore – es ist sein letztes Spiel für den BVB, bevor er im Sommer zum FC Liverpool wechselt. Und doch bringt niemand dieses Spiel bevorzugt mit dem Namen Riedle in Verbindung. Es ist ein 20-Jähriger, der die Geschichte des Münchner Finales schreibt. Lars Ricken wird zwanzig Minuten vor Schluss für Stéphane Chapuisat eingewechselt, er soll mit seiner Schnelligkeit für Entlastung sorgen, denn nach Alessandro Del Pieros Anschlusstor ist Dortmund schwer unter Druck geraten. Andreas Möller spielt den Ball über die aufgerückte Turiner Deckung in den Lauf von Ricken, und der hebt ihn über den Torwart Angelo Peruzzi zum alles entscheidenden 3:1 ins Tor, ganze zehn Sekunden nach seiner Einwechslung.

Als der Pott eine Partymeile war

In den folgenden Tagen ist der Pott eine einzige Partymeile. Im Jahr 2009, zum 100. Klubgeburtstag, wählen die Dortmunder Fans Rickens Bogenlampe zum Jahrhunderttor, aber da ist es mit der Solidarität im Revier schon lange wieder vorbei. Das liegt auch ein bisschen an Jens Lehmann. Im Dezember 1997 verdirbt er als Schalker den BVB-Fans das Weihnachtsfest, als er in der dritten Minute der Nachspielzeit als erster Bundesligatorwart ein Tor aus dem Spiel heraus erzielt, mit dem Kopf zum 2:2. 1999 wechselt Lehmann nach Dortmund. Die BVB-Fans beschimpfen ihn als „Schalker“, für Schalker ist er ein „Verräter“. Der Rausch des Seitensprungs ist verflogen.

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