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Sport: „Komplett reformiert“

Türkei-Experte Tobias Schächter über Strukturen und den Aufstieg des türkischen Fußballs

Herr Schächter, wie überrascht sind Sie vom Einzug der Türken ins Halbfinale?

Ich hatte schon erwartet, dass sie die Vorrunde überstehen. Dass sie aber im Viertelfinale trotz all der gesperrten und verletzten Spieler gewinnen, hat mich wirklich überrascht.

Obwohl die Türken ja 2002 schon mal Dritter bei der WM waren...

Damals hatte das Land sich schon auf Augenhöhe mit den großen Fußball-Nationen gesehen. Doch dann kam der Einbruch, als man sich nicht für die nächste WM qualifiziert hat.

Aber der Türkei ging es fußballerisch früher noch schlechter, oder?

Stimmt. Ende der 80er Jahre war der Fußball am Boden. Höhepunkt dieser Phase war ein 0:8 bei der EM-Qualifikation gegen England. Danach hat der ehemalige Präsident des türkischen Fußballverbands, Senes Erzik, gesagt: „Jetzt reicht’s, so geht es nicht weiter!“

Was waren die Konsequenzen?

Das ganze System wurde reformiert. Es wurde eine neues Sichtungssystem nach Vorbild des DFB eingerichtet, so dass es in jedem Landesteil Stützpunkte gab. Die Väter dieses Aufschwungs waren neben Erzik auch Jupp Derwall, der 1984 zu Galatasaray Istanbul kam, und Josef Piontek.

Lässt sich diese Entwicklung denn nur an Personen festmachen?

Natürlich hat der türkische Fußball auch von der wirtschaftlichen Öffnung profitiert. Außerdem fand ein Wandel in der Mentalität statt. Die jungen Talente steckten nicht mehr sofort den Kopf in den Sand, wenn etwas nicht lief. Zudem wurden Spieler von Auswandererfamilien rekrutiert, die bei großen europäischen Klubs unter professionellen Bedingungen aktiv waren. Sie haben viel zu der so genannten goldenen Generation beigetragen, die 2002 erfolgreich war.

Die Türken haben ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Europa. Wie kommt es, dass sie sich im Fußball trotzdem stark an Deutschland und den anderen westlichen Nationen orientieren?

Auf keinem anderen Gebiet spiegelt sich diese Widersprüchlichkeit so wider wie im Fußball. Sehen Sie sich nur Fatih Terim, den Nationaltrainer, an. Der ist ein großer türkischer Nationalist, fühlt sich aber gleichzeitig geschmeichelt, wenn ihn große Klubs aus Italien oder Spanien umwerben.

Diese Beobachtung deutet an, welche Rolle Fußball in der türkischen Gesellschaft einnimmt, oder?

Vor dem Hintergrund der heftigen politischen Debatten ist die Sportart für die meisten eine Art Ablenkung. Außerdem ist Fußball für viele Türken immer noch die einzige Möglichkeit, sozial aufzusteigen.

Wie würden Sie die denn die derzeitigen Strukturen in der türkischen Süperlig beschreiben? Immerhin werden immer größere Stars gehandelt wie der spanische Torjäger Daniel Güiza.

Sportlich sind die Türken natürlich nicht auf einer Ebene mit England, Spanien und Italien. Aber hinter Deutschland und Frankreich halte ich die Süperlig für konkurrenzfähig. Trotzdem ist sie strukturell anders aufgestellt: Für die großen Klubs spielt Geld keine Rolle, die kleinen Vereine kommen da noch nicht mit.

Oft ist die Stärke der Liga auch ein Indiz für die der Nationalmannschaft. Wie sehen Sie deren Zukunft?

Die Türkei hat nicht nur im Fußball ein enormes Potenzial. Sie ist ein riesiges Land, das – wenn es nicht an sich selbst scheitern würde, wie selbst der Präsident sagt – noch viel erreichen kann. Auf jeden Fall sollten die Türken zukünftig unter den besten acht europäischen Teams sein.

Lassen Sie auch noch zu einer Prognose für die ganz nahe Zukunft hinreißen?

Das ist schon schwieriger (lacht). Die Vergangenheit hat gezeigt, dass man die Türken nie abschreiben sollte. Aber diesmal glaube ich, dass der Substanzverlust zu groß ist. Ich tippe deshalb auf Deutschland.

Das Gespräch führte Katrin Schulze

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