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Sport: Krawall in der Curva

Wie die Italiener versuchen, der Gewalt beim Fußball Herr zu werden – und warum sie das Problem oft noch verstärken

Sobald in Italien ein neues Gesetz verabschiedet wird, fragen die Italiener als Erstes: Muss ich mich wirklich daran halten? Anschnallpflicht vorn: vielleicht. Anschnallpflicht hinten: auf keinen Fall. Einkommensteuer: ja (aber doch nicht gleich alles). Es hat schon immer eine Diskrepanz gegeben zwischen dem legalen Italien, der offiziellen Version, und dem realen Italien, das beschreibt, wie die Leute sich in Wahrheit verhalten. Fußball bildet da keine Ausnahme. Auf jeder Stufe fragen sich die Vereine, die Spieler, die Fans: Passiert wirklich etwas, wenn ich diese Regel oder jenes Gesetz nicht einhalte? Muss ein Verein wirklich über die vorgeschriebenen finanziellen Sicherheiten verfügen? Stimmt es wirklich, dass ein Spieler für eine Grätsche von hinten vom Platz gestellt wird? Werden die Fans wirklich bestraft, wenn sie ein paar rassistische Gesänge von sich geben?

Im Privatleben ziehen unterschiedliche Menschen unterschiedliche Schlussfolgerungen, was einzelne Gesetze angeht. Einigen fällt es schwerer, eine Steuerhinterziehung zu verheimlichen. Andere sind mit guten Kontakten gesegnet. Einer hat Macht. Der eine ist ehrlich, der andere vorsichtig. Im Fußball ist es klar, dass die Obrigkeit nie mit Juventus, Milan oder Inter hart ins Gericht gehen würde. Diese Vereine müssen sich nicht vor einem Zwangsabstieg fürchten, oder nur einem Punktabzug. Und deshalb können sie sich anders benehmen. Juventus wurde so gut wie gar nicht bestraft für die inzwischen bewiesenen Fälle von Doping vor zehn Jahren. Keine Pokale mussten zurückgegeben werden. Schuld war schlicht der damalige Mannschaftsarzt. Und natürlich ist es schwer, bestimmte Regeln bei so großen Vereinen wie Roma oder Lazio durchzusetzen, wenn man durch harte Sanktionen das Risiko schwerer öffentlicher Unruhen eingeht. Natürlich nutzen die Vereine und die Fans diese Situation aus.

Wie in mehr oder weniger jedem Bereich italienischen Lebens kommt es zu einer gewissen Unschärfe, sogar zu einem Durcheinander. Illegalität (nie jedoch Anarchie) ist auf dem Vormarsch. Schummelt ein Verein, schummeln die anderen auch, um mithalten zu können. Perugia zum Beispiel hatte am Ende der letzten Saison Steuerschulden in Höhe von 35 Millionen Euro – Geld, das sie für Spieler ausgegeben hatten, die sie sich sonst nicht hätten leisten können. Die allgemeine Gesetzlosigkeit steigert sich, bis die Situation plötzlich unhaltbar wird. Und an diesem Punkt, da nun offensichtlich etwas geschehen muss und das Durchsetzen des Gesetzes keinen Popularitätsverfall mehr nach sich ziehen würde, schreiten die Behörden ein. Natürlich wussten sie schon vor fünf oder sogar zehn Jahren ganz genau, was ablief, aber damals kam dieses Wissen eben ungelegen. Und so, am Ende der letzten Saison, begannen die Behörden schließlich, schonungsloser mit den Vereinen umzugehen.

Doch die wahre Revolution geschah in diesem Jahr mit einem neuen Gesetz zur Überwachung der Fans. Und wieder einmal hätte nichts italienischer sein können als diese Maßnahmen, nichts weniger hilfreich in der gegenwärtigen Situation. Die Probleme lauten Gewalt und rassistisches Gegröle. Das Gewaltphänomen wird von den italienischen Medien hochgejazzt, weil sich im Fernsehen junge Männer, die in den Stadionblöcken mit weißen Stöcken Polizisten angreifen, gut machen. Diese weißen Stöcke sind natürlich die Stäbe für die Fahnen der Fans. Sie bestehen aus extrem leichtem Kunststoff. Damit einen Hund zu verletzen, wäre schon schwierig, geschweige denn einen Polizisten mit einem Schutzschild. Einen richtigen Schlagstock mit ins Stadion zu nehmen, ist unmöglich, weil jeder Zuschauer am Eingang konsequent gefilzt wird.

Aber die Fernsehbilder sind eindrucksvoll, und diese Gewalt, so theatralisch sie auch sein mag, richtet zugrunde, was sich längst zur größten regelmäßig abgehaltenen Feier der Nation entwickelt hat. Die Bilder von Leuchtgeschossen, wie sie während des Champions-League-Spiels zwischen Inter und Milan auf dem Spielfeld landeten, waren besonders dramatisch - obwohl der Vorfall viel weniger gefährlich war als das Münzenwerfen, das so gut wie unsichtbar ist, aber selbst wiederum nicht annähernd so gefährlich ist wie das Autofahren nach ein paar Bier. In den vergangenen zwanzig Jahren gab es in Italien etwa zwanzig Todesfälle, die mit Fußballgewalt zu tun hatten – sehr viel weniger als in England und viel, viel weniger als die Zahl derjenigen, die als Folge von fahrlässigem Verhalten auf der Skipiste sterben. Darüber spricht kaum einer, und Bilder kann man davon auch nicht zeigen, weil es auf den Pisten keine Kameras gibt.

Es ist klar, dass die Berlusconi-Regierung in der öffentlichen Aufmerksamkeit für das Gewaltthema eine Gelegenheit sieht, sich als entscheidungsstark und schlagkräftig zu präsentieren. Wer die Probleme im Irak nicht lösen oder keine Fortschritte im Kampf gegen das organisierte Verbrechen vorweisen kann, und auch die Wirtschaft nicht in Gang bekommt, dem bietet die kleine und übersichtliche Arena des Fußballs ein Spielfeld, auf dem sich leicht Ordnung durchsetzen lässt.

Der beste Weg, um gegen Gewalt oder rassistische Gesänge vorzugehen, die von Überwachungskameras und -mikrofonen aufgezeichnet wurden, wäre es, die Täter zu identifizieren, sie zu verhaften und hart zu bestrafen. Sollte man jedenfalls denken. Aus irgendwelchen Gründen passiert das aber selten. Nach rassistischen Ausfällen werden – unter alter und neuer Gesetzgebung – Sanktionen vornehmlich gegen den Verein und die Fans ausgesprochen (der Verein muss zum Beispiel Strafen zahlen oder, nach schweren Verstößen, vor leeren Rängen spielen). Es wird nicht versucht, einzelne Täter zu identifizieren und sie vor ein Gericht zu bringen. Da viele dieser Gesänge nicht nur Ausdruck von Rassismus sind, sondern auch eine abstoßende Form von Mutprobe, genießen die Täter sogar die Berichterstattung in der Presse und sind stolz über die verhängten Sanktionen. In Verona habe ich oft Fans in Bars damit prahlen hören, dass sie einen unpopulären Vereinspräsidenten haben blechen lassen für ihr anstößiges Verhalten.

Was die Gewalt angeht, gehört zu den neuen Maßnahmen in dieser Saison, dass sowohl auf den Dauerkarten als auch auf den Tageskarten eine Sitznummer und der Name des Zuschauers verzeichnet sind. Das stellt eine große Bürde für die kleineren Vereine dar und führt zu langen Schlangen vor den Kassen, da jeder Fan seinen Personalausweis vorzeigen muss, damit der Kartenverkäufer sich die Personalien notieren kann. Das führt schon zu Beginn zu Frustration und Wut. „Entschuldigt die Verspätung“, stand auf einem riesigen Plakat, das Parma-Anhänger im Spiel gegen Chievo hochhielten, „wir standen in der Ticketschlange.“

Wenn solche Maßnahmen irgendwelchen Nutzen hätten, dann könnte man sie ja loben. Aber in der Curva, im Herzen des Fanblocks, interessiert sich niemand für die Nummern auf den Karten. Das einzige Gesetz, das hier gilt, schreibt die stärkere Fangruppe. Zugleich räkeln sich gegenüber am anderen Ende des Stadions die Fans der Gästemannschaft auf halbleeren Rängen, da immer weniger mitreisen, als ihnen Platz zusteht.

Und sowieso findet jede reale Gewalt außerhalb des Stadions statt – in Kämpfen zwischen Fans und Polizei und nicht zwischen zwei verfeindeten Fangruppen. Draußen auf der Straße hat die Polizei ein Monopol auf die Szenen, die die Öffentlichkeit zu sehen bekommt – wenn überhaupt. Wer Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Fans fotografiert, dem wird seine Kamera weggenommen. Das schließt auch Journalisten ein, und das ist die einzige Regel, die eisern durchgesetzt wird. Alles, was im Fernsehen gezeigt wird, stammt von Polizeikameras und ist nach Maßgaben der Polizei geschnitten worden. Mit dem Ergebnis, dass die Darstellung von dem, was geschehen ist, vollkommen einseitig ist.

Die neuen Maßnahmen der Regierung ignorieren dieses Problem. Niemand hat bisher auch nur durchblicken lassen, dass das Verhalten der Polizei kontraproduktiv ist. Auf dem Weg ins Stadion wird man von rasenden Polizeimotorrädern und Mannschaftswagen mit heulenden Sirenen überholt, auch wenn es nirgendwo den kleinsten Hinweis auf Unruhen gibt. Männer mit Schlagstöcken und Schutzschilden rennen vorbei oder blockieren einem aus unersichtlichen Gründen den Weg. Gästefans sind in besonderer Weise einem aggressiven und nicht selten beleidigenden Polizeiverhalten ausgesetzt. Fanbusse werden stundenlang auf Autobahnraststätten festgehalten, bisweilen ohne Erklärung. Die wenigen Fans, die wirklich auf Randale aus sind, blühen in der negativen Energie auf, die solches Verhalten ausstrahlt, und in den Chancen auf Krawall, die sich daraus ergeben. Sie genießen es, sich als verfolgte Minderheit zu sehen, so legitimieren sie ihr Verhalten. Je härter die Polizei eingreift, desto mehr freuen sich solche Leute darauf.

Wie wichtig ist das alles? Hat die italienische Gesellschaft überhaupt ein Interesse daran, diese Probleme zu lösen? Die Presse in Italien wird nicht müde zu schreiben, dass der Fußball durch und durch korrumpiert ist, aber vielleicht ist es gerade dieses Gemisch aus Kontroverse und Konflikt, die das Spiel zu so einem unsterblich interessanten Spektakel macht. Natürlich lenkt uns der überdramatisierte Skandal um die Fans und das Verhalten der Spieler von den anderen schwer lösbaren Problemen ab.

Und dabei haben wir die Schiedsrichter noch nicht einmal erwähnt. Als ich vor kurzem mit einem Fan sprach, vertrat ich die These, dass man nur in Italien wie in England die Barriere zwischen Zuschauern und Spielfeld entfernen müsste, dann wären die Fans schlicht gezwungen, sich verantwortungsvoller zu benehmen. Es gäbe einfach keinen Ärger mehr. „Sie können die Barrieren erst wegnehmen“, sagte der Fan grimmig, „wenn wir sicher sind, dass die Schiedsrichter ehrlich sind.“

Tim Parks

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