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Sport: Kreuzberger Klassiker

Zunächst war Walter Fechner skeptisch, als ihm ein Freund vor einem Jahr ein Faxgerät schenkte. Neumodischer Kram, was sollte er damit, mit seinen 88 Jahren.

Zunächst war Walter Fechner skeptisch, als ihm ein Freund vor einem Jahr ein Faxgerät schenkte. Neumodischer Kram, was sollte er damit, mit seinen 88 Jahren. Inzwischen ist Fechner begeistert. Wenn er jetzt nach Hause kommt, liegen dort schriftliche Anmeldungen von Fahrern für das Radrennen "Rund in Kreuzberg" am Karfreitag. "Früher haben sich die Leute telefonisch gemeldet, dann hat man mitgeschrieben und konnte den Namen nicht mehr lesen", sagt Fechner. Es ist gut, dass er jetzt einen automatischen Assistenten hat, der ihn unterstützt, während er das Rennen vorbereitet. Wenn daheim das Faxgerät Mitteilungen ausspuckt, stellt Fechner Schilder auf für die Autofahrer, die ihre Wagen woanders parken sollen für die Zeit des Rennens. "Drei Stunden haben wir gebraucht", sagt er. Für einen nicht mehr ganz jungen Herrn eine ordentliche Arbeitszeit.

Seit 72 Jahren ist Fechner Mitglied beim Berliner Radfahrer-Club Zugvogel 1901, der das Rennen ausrichtet - und seit 26 Jahren Erster Vorsitzender. Als junger Bursche fuhr er selbst Rennen, gewann "Berlin-Cottbus-Berlin", ehe er nach dem Krieg als Sportlicher Leiter bei Zugvogel wieder einstieg. "Rund in Kreuzberg" mit Start und Ziel in der Bergmannstraße (Beginn Männer 9.20 Uhr, Frauen 11.20 Uhr) findet am Karfreitag zum 52. Mal statt. Zum 52. Mal heißt der Organisator Walter Fechner. Viele Anekdötchen gibt es da zu erzählen. Dabei sitzt der gelernte Schriftsetzer in Trainingshose in seinem Wohnzimmer zwischen alten Zeitungsartikeln, in denen er seinen Namen rot angestrichen hat, und "von mir selbst mit Blei gesetzten" Programmen zu Rennen des BRC. Neben dem Kreuzberger Klassiker zählt dazu auch das Querfeldeinrennen am Tag der Deutschen Einheit.

Fechner ist immer noch da. Alles andere rund ums Rad hat sich gewandelt im Laufe der Jahrzehnte, auch in Kreuzberg. Vorbei sind die Zeiten, als der Sieger ein Tonbandgerät gewann und es als Prämienwertung 20 halbe Hähnchen gab. 1979, mitten im Kalten Krieg, schaffte Fechner Unglaubliches: Er, der einst vier Jahre in Sibirien in Kriegsgefangenschaft gesessen hatte, holte Radfahrer aus der Sowjetunion nach Berlin, nach West-Berlin. Mit dem Bus reisten sie an - aus Kasachstan. Selbst 1992 scheint lange her: Damals belegte ein 18-jähriges Nachwuchstalent Platz zwei. Heute kann Fechner den Mann nicht mehr finanzieren. Sein Name: Jan Ullrich. "Die großen Männer kosten zuviel Geld, deshalb ziehen jetzt die Frauen mehr bei den Zuschauern", sagt Fechner. Sie sind billiger und trotzdem gut. Allen voran Hanka Kupfernagel, die Olympiazweite von Sydney. Sie ist prominentestes Zugvogel-Mitglied und meldet sich immer mal bei Fechner. Am Sonntag rief sie ihn an, erzählte vom Sturz beim Weltcup in Italien und versicherte, dass sie in Kreuzberg dabei ist.

Wenn Kupfernagel bei großen Rennen antritt, geht auch Fechner auf Reisen. Dann passiert es schon mal, dass ihn im VIP-Zelt jemand anspricht und sagt: "Kennen Sie mich nicht? Ich bin doch vor 40 Jahren bei Ihrem Rennen gefahren." Zeit zu reisen - davon möchte Fechner mehr haben. Denn er würde sich freuen, wenn sich endlich ein Nachfolger für ihn fände. "Man soll nicht erst aufhören, wenn man nur noch mit dem Kopf wackelt oder dummes Zeug redet." Aber: "Keiner will es machen, es gibt ja nichts zu verdienen", sagt Fechner, der mehr als einmal eigenes Geld in ein Rennen investierte, damit es stattfinden konnte. "Die Einstellung bei der Jugend ist heute eine andere. Das ist aber normal", meint Fechner, der am Sonnabend 89 wird. Sein Entschluss steht fest. Jetzt sollen andere ran. Ob es ihnen gefällt oder nicht.

Helen Ruwald

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