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Sport: „Küsst euch doch!“

Wie ein Reporter den peinlichen, weil kampflosen 1:0-Sieg Deutschlands über Österreich erlebt hat

Berlin - Die „Schande von Gijon“ bei der WM 1982 in Spanien ist in der deutschen Fußballgeschichte wohl das krasse Gegenstück zum „Wunder von Bern“ 1954. Bereits in der elften Minute hatte im Stadion El Molinon Horst Hrubesch das 1:0 der drückend überlegenen deutschen Mannschaft erzielt. Für jeden Zuschauer und jeden Reporter auf der Tribüne schien es so, als würde die Rache für Cordoba, das Aus bei der WM 1978 durch ein 2:3-Debakel gegen Österreich, furchtbar werden. Ein großer Irrtum.

Deutsche und Österreicher waren auf einmal keine Gegner mehr, sondern Freunde. Denn das 1:0 reichte beiden zum Einzug in die zweite Finalrunde. Deutschland musste gewinnen, Österreich durfte nicht höher als 0:2 verlieren, sonst wäre Algerien weitergekommen. Die groteske Konstellation ist seit dem Vortag, seit dem 3:2-Sieg Algeriens über Chile, bekannt. Nach Hrubeschs Tor stellen beide Teams das Fußballspielen ein, schieben den Ball 80 Minuten lang abwechselnd in den eigenen Reihen hin und her.

Harald Schumacher, der als Torwart an dem Ballgeschiebe nicht aktiv teilnehmen konnte, gestand später in seiner Autobiografie „Anpfiff“: „Meine größte Parade musste ich nach dem Einwurf eines deutschen Spielers zeigen. Lächerlich. Ich war beschämt.“ Der österreichische Mittelfeldspieler Roland Hattenberger nannte das Spiel später „Paarlaufen“.

Die 41 000 Zuschauer waren empört. Aufgebrachte algerische Fans versuchten das Spielfeld zu stürmen, wurden aber von der spanischen Polizei niedergeknüppelt. Auf den Tribünen wedelten algerische Zuschauer mit Banknoten, was heißen sollte: „Das Spiel ist verkauft“. Der algerische Fußball-Präsident Ben Ali Sekkal ließ sich mit stehenden Ovationen feiern und reichte einen Protest beim Fußball-Weltverband Fifa ein. Die spanischen Besucher winkten mit weißen Taschentüchern, die schlimmste Schmach für einen Stierkämpfer: Feigling. Die deutschsprachigen Fans höhnten: „Küsst euch doch!“ Ich sehe sie noch vor mir, Breitner und Prohaska, wie sie Zwiegespräche führten, anstatt sich Zweikämpfe zu liefern, wie sich Rummenigge und Krankl die Arme um den Hals legten.

Trainer Jupp Derwall billigte den auf dem Spielfeld getroffenen Nichtangriffspakt – es fiel kein Torschuss in den letzten 60 Minuten – und wechselte die Torjäger Hrubesch und Rummenigge, gegen Chile noch dreifacher Torschütze, demonstrativ aus. DFB-Präsident Hermann Neuberger gab sich entsetzt: „Eine Katastrophe, eine Blamage für beide Mannschaften. Abscheulich.“ Dennoch schmetterte er als Fifa-Vizepräsident den algerischen Protest scheinheilig ab: „Es war das gute Recht der einen Mannschaft, langsam und auf Sicherheit zu spielen, wenn es dem Erfolg dienlich ist.“

Jürgen Grabowski war als mein Kolumnist mit mir unterwegs. Auf der Tribüne wurde der geschockte Weltmeister von 1974 von den Kollegen bestürmt, sagte aber nichts. In der „Abendpost/Nachtausgabe“, einer Frankfurter Boulevard-Zeitung, kommentierte er dann: „Noch nie habe ich mich in einem Fußballstadion so abgestoßen gefühlt, so peinlich berührt. Schweren Schaden hat der Fußball in der Öffentlichkeit genommen.“ Die Weltpresse giftete. „Ein Stück Fußball-Porno“ sah die niederländische Zeitung „Volkskrant“. Zu dem Skandal wäre es nicht gekommen, wenn die Fifa den Modus, den sie als Folge der „Schande von Gijon“ änderte, gleich eingeführt hätte: Die letzten beiden Spiele einer Gruppe werden seitdem zeitgleich angesetzt.

Hartmut Scherzer

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