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Sport: Kurzschlüsse im Kreislauf

Der Europameister startete als großer Favorit in diese WM. Doch vor der Neuauflage des EM-Finals von 2008 gegen Deutschland ist Spanien längst nicht mehr so unwiderstehlich

Die Zeiten haben sich geändert. Viele Jahre schlug sich die spanische Nationalelf bei Weltmeisterschaften mit dem Image des ewigen Geheimfavoriten herum. Hochklassiger Ligafußball, die beiden bedeutendsten Vereine der Erde im Land, glänzende Einzelspieler – aber wenn es drauf ankam, versagten der roten Furie die Nerven. Diesmal sollte alles anders werden: Spanien war als Top-Favorit zur WM gereist.

Nach dem souveränen Triumph bei der Europameisterschaft 2008 hatte Vicente del Bosque von seinem Vorgänger Luis Aragones ein eingespieltes Team übernommen. Ähnlich wie Helmut Schön, der die goldene Generation deutscher Spieler nach der EM 1972 zwei Jahre später lediglich zum WM-Titel moderieren musste, sollte del Bosques Feinjustierung ausreichen, um auch Weltmeister zu werden. Ein Kader aus Spielern, die fast ausnahmslos im Zenit ihres Schaffens stehen. Zwei atemberaubende Blöcke – acht von elf Spielern aus der Startaufstellung beim 1:0-Viertelfinalsieg gegen Paraguay spielten in der vergangenen Saison bei Real Madrid oder dem FC Barcelona. Mehr Erfahrung auf der großen Fußballbühne bringt kein Team bei dieser WM zusammen. La Seleccion hat den One-Touch-Fußball mit der Muttermilch aufgesogen. Im EM-Finale 2008 bekam auch die Mannschaft von Joachim Löw eine Lehrstunde in Sachen Perfektion – und unterlag Spanien ohne den Hauch einer Chance.

Doch die Spanier tun sich in Südafrika schwer mit der Rolle des Top-Favoriten. Die Niederlage gegen die Schweiz wirkte noch wie ein Kurzschluss, ein technischer Defekt in einem ansonsten fehlerfrei funktionierenden Kreislauf. Das restliche Vorrundenprogramm spielte das Team dann solide, aber glanzlos herunter. Die K.o.-Runde nun lässt Zweifel daran aufkommen, dass Spanien wirklich als ein Weltmeister taugt, der diesen Titel auch verdient. Das Unwiderstehliche der EM 2008 sucht der Betrachter vergebens. Mit einer aus Spielkontrolle und Kombinationssicherheit resultierenden Dominanz frisst sich die spanische Offensive wie Korrosion durch Abwehrreihen. Aber die Torerfolge sind selten, lediglich auf die Kaltschnäuzigkeit von David Villa war bislang immer Verlass. Fernando Torres ist weit entfernt von seiner Form vor zwei Jahren und wird beinahe in jedem Spiel ausgewechselt.

Del Bosques Vorgänger Luis Aragones wetterte deshalb: „Der Mannschaft fehlt die Siegermentalität.“ Eine Äußerung, die der Nationalcoach, der das Team das erste Mal seit 60 Jahren wieder in das Semifinale einer WM führte, kommentarlos an sich abprallen ließ. Treffender war die Bemerkung von Diego Maradona, der die mangelnde Attraktivität in Spaniens Spiel wie folgt erklärte: „Würden die Tore auf den Außenlinien stehen, gewänne Spanien jedes Spiel mit 14:0.“ Will sagen: Alles super – bis es darum geht, zum Abschluss zu kommen.

Und darin liegt vor dem Spiel gegen Deutschland am Mittwoch die Krux. Wenn es der DFB-Elf gelingt, ihr fintenreiches Spiel im engmaschigen Netz der spanischen Reihen aufzuziehen, wäre es zumindest ein Teilerfolg. Wichtig wäre dann noch, den Aktionsradius von Kreativzentrum Andres Iniesta einzuschränken und schließlich noch David Villa an die Kette zu legen. Dann – und nur dann – wäre der Einzug ins Finale möglich.

Sollte Spanien ein frühes Tor erzielen, besteht nur noch theoretisch Aussicht auf Erfolg. Dann wird die rote Spießerin das Ergebnis mit ähnlicher Perfektion verwalten wie im EM-Finale 2008. Pokerface del Bosque sagte nach dem Sieg über Paraguay: „Wir haben unser Potenzial noch nicht ganz abgerufen.“ Sollte sein Team noch beweisen wollen, dass es zu Recht als Favorit gehandelt wird – jetzt wäre der Zeitpunkt dafür gekommen.

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