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© EPA

Leichtathetik-WM: Bolero in Blau

Am Sonntagabend wurde es im Olympiastadion von Minute zu Minute lauter. Die Stimmung trieb Jennifer Oeser und Nadine Kleinert zu Silber.

Auf einmal dieses Raunen. Es rollte wie eine Welle durchs ganze Stadion, und diese Welle drang ins Nervensystem von Jennifer Oeser. So jedenfalls kam es ihr in dieser Sekunde vor, sie hörte es, als sie auf der Bahn lag. „Dieses Raunen des Publikums war der Wahnsinn“, sagt sie. Ihre Teamkollegin Julia Mächtig hatte sie gerempelt, unabsichtlich natürlich, aber nun war die Silbermedaille von Oeser im Siebenkampf in Gefahr. Sie musste noch 450 Meter laufen, die anderen waren längst weitergerannt, und Jennifer Oeser von Bayer Leverkusen hatte einen Gedanken: „Das kann es nicht gewesen sein, nicht bei diesem Publikum.“ Sie rappelte sich auf und lief ihr 800-Meter-Rennen grandios zu Ende. Im Ziel hatte sie Silber mit 6493 Punkten. Und das Stadion tobte.

Nadine Kleinert sah nur noch „Vögelchen“, so benebelt war sie. Die Kugel hatte gerade ihre Hand verlassen, sie flog und flog und landete bei 20,20 Metern. Kleinert ging wacklig aus dem Ring, dann hatte sie eine Kreislaufschwäche. Noch nie musste sie sich in einem Wettkampf hinlegen, um wieder einigermaßen klar zu werden. Eine Überdosis Emotion hatte die Olympiazweite Kleinert vom SC Magdeburg erledigt. Ihre extrem hohe Motivation, der Druck der WM und dann noch diese grandiose Atmosphäre, das war zu viel. „Dieses Publikum hat mich nur noch gepusht“, sagt die 33-Jährige. Das war der pure Wahnsinn.“ Es ist Montagmorgen, aber sie ist immer noch ergriffen. In diesem Wahnsinn gewann Nadine Kleinert Silber.

Es war wie bei einem Bolero an diesem Abend im Olympiastadion. Unaufhaltsam steuerte alles auf einen grandiosen Höhepunkt zu. Die Spannung im Stadion stieg immer weiter, diese Dramatik um Oeser, dieses Mitfiebern mit Kleinert, die ganze Aufregung nahm von Minute zu Minute zu, immer näher kam der Moment, in dem sich die Anspannung in einer großen kollektiven Reaktion entladen musste. Als Oeser und Kleinert innerhalb von Minuten Silber gewannen, als sie gemeinsam auf ihrer Ehrenrunde emotional mit den Zuschauern verschmolzen, da war dieser Punkt erreicht. Rund 50 000 Menschen im Olympiastadion tobten, es war eine Atmosphäre, der man sich nicht entziehen konnte. Es sind diese Szenen, die Leichtathletik zu einer faszinierenden Sportart machen. Kleinert sagt: „So etwas habe ich noch nie erlebt.“

Seit Jahren hatte sie sich Aufmerksamkeit gewünscht, seit Jahren spürt sie stattdessen fast höhnische Abwertung ihrer Leistungen. Das Kugelstoß-Finale bei der WM drohte zu einer weiteren Enttäuschung zu werden. Kleinert dachte an alles, nur nicht daran, dass sie hier den Wettkampf ihres Lebens absolvieren würde.

Im ersten Versuch zitterten ihre Beine, „und die Knie waren weich“. Sie wollte gleich eine Marke setzen. Aber nun stand sie da mit ihrer Kugel, das anfeuernde Klatschen des Publikums im Ohr. Ein 33-jähriges Nervenbündel. „Du blöde Kuh, du kannst es, reiß Dich zusammen“, beschimpfte sie sich. Dann der Stoß. Sie hielt die Luft an beim Versuch, wie immer. 20,06 Meter, persönliche Bestleistung eingestellt. Sie wollte unbedingt eine Medaille, Silber oder Bronze. Gold war für Valerie Vili reserviert, die Weltmeisterin und Olympiasiegerin aus Neuseeland.

Der dritte Versuch. Wieder hielt sie die Luft an. Vermutlich, sagt Kleinert, spielte das auch eine Rolle bei der Kreislaufschwäche. Sie erholte sich bis zum Schluss nicht davon. „Wie ich den vierten Versuch absolviert habe, weiß ich nicht mehr.“ Auch der fünfte, der sechste Versuch, alles nur noch schwammig in Erinnerung. Aber dass wegen Oeser und ihr Usain Bolt acht Minuten warten musste, das weiß sie noch genau. Bolt bereitete sich aufs 100-Meter-Finale vor, auf seinen Weltrekord, aber erstmal kamen Oeser und Kleinert mit ihrer Ehrenrunde. „Wir haben ihm ein bisschen die Show gestohlen. Da hat er mal gemerkt, wie wir uns fühlen, wenn wir sonst auf ihn warten müssen.“

Aber zuerst hatte Oeser gewartet. Sie stand im Ziel, ausgepumpt, mit fragendem Blick. „Ich wusste ja nicht: War ich disqualifiziert? Weil ich die Bahn verlassen hatte?“ Ihr Lauf wurde gewertet, das erfuhr sie Sekunden später.

Und irgendwie passte es in die Dramaturgie dieses Abends, dass Jennifer Oeser vor dem Start noch ein Gedanke durch den Kopf jagte: „Bronze verlierst du nur noch, wenn du stürzt.“ Nach 350 Metern stürzte sie, und Julia Mächtig, die Verantwortliche, war „schockiert“. Die 23-jährige Neubrandenburgerin konnte sich die „restlichen 450 Meter nicht mehr richtig konzentrieren“. Als Oeser ihre Aufholjagd startete, machte Mächtig sofort Bahn eins frei. Und Oeser rannte wie noch nie. Für sich, für Silber, für die Zuschauer. Die Bronzemedaille, da war sie sich sicher, würde sie retten können. Aber Silber? Drei Sekunden Vorsprung herausarbeiten auf die Polin Kamila Chudzik? Kein großes Problem bei diesen Zuschauern. „Die haben mich gepusht ohne Ende.“

Sie hatte Bolt warten lassen, hatte es genossen, dass sie als Mehrkämpferin mal mehr beachtet wurde als der Weltrekordler. Aber das änderte nichts an der Ehrfurcht, die sie ihm gegenüber empfindet. Fast andächtig erzählt sie, wie sie den Star dieser WM als menschliches Wesen erlebten durfte. „Ich habe ihn auf die Toilette gehen sehen.“

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