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Leichtathletik-EM: Deutsche Athleten wachsen über sich hinaus

Leichathletik-EM in Barcelona: Wirklich dominante Läufer haben die Deutschen nicht, aber immer wieder Athleten, die über ihre Grenzen gehen.

Bis zum ersten Lächeln brauchte Carolin Nytra ein bisschen, länger jedenfalls als die 12,68 Sekunden, die sie eben für 100 Meter Hürden benötigt hatte. Es war die zweitschnellste Zeit, die Nytra bisher in ihrer Karriere gelaufen ist. Doch weil sie mit 12,57 Sekunden als Europas Beste zur EM nach Barcelona angereist war und dann als Dritte ins Ziel kam, musste sich Nytra erst mit der Bronzemedaille anfreunden.

Wenig später lief sie jedoch lächelnd eine Ehrenrunde mit der Siegerin Nevin Yanit aus der Türkei (12,63) und der Zweitplatzierten Derval ÒRourke aus Irland (12,65). „Natürlich hat man mehr erwartet. Aber es ist eine Medaille, von daher bin ich zufrieden“, sagte die 25 Jahre alte Bremerin. Sie hatte früher regelmäßig mit ihren Nerven zu kämpfen gehabt. In Barcelona aber zeigte sie eine starke Leistung. Damit fügte sie sich ein in das deutsche Laufergebnis bei dieser EM. Die Deutschen schienen das Laufen schon verlernt zu haben, doch im kontinentalen Vergleich sind sie auf jeden Fall noch für herausragende Leistungen gut.

Eine davon gab es am späten Freitagabend zu bestaunen. „Alles war so surreal“, sagte Carsten Schlangen später, als er völlig überraschend die Silbermedaille über 1500 Meter gewonnen hatte. Wie in Trance hatte er seinen Weg zu dieser Medaille erlebt. Der hatte begonnen, als er in den Bus gestiegen war. In diesem Moment flüchtete Schlangen in seine eigene, abgeschlossene Welt. „Da sind alle Schranken gefallen.“ Sogar auf dem Einlaufplatz verklärte sich jeder Schritt zum sinnlichen Ereignis. „Schon wie man vom Erdboden abhebt, da merkt man, dass etwas Besonderes passiert.“

Nachdem er aus seinem Traum erwacht war, hatte der Berliner eine dieser schönen Geschichten geschrieben, von denen der Sport lebt. Er war in der richtigen Sekunde auf der richtigen Bühne. Den ganzen Tag schon hatte er sich „super gefühlt“. Schlangen war in jener euphorischen Stimmung, die einen förmlich über die Bahn trägt, obwohl alle Muskeln schmerzen und der Körper im Grenzbereich arbeitet. Der 29 Jahre alte angehende Architekt wusste, dass er seine Spurtfähigkeit verbessert hatte, aber er benötigte diese Euphorie und etwas Glück, um dies auch ausspielen zu können. Der Spanier Arturo Casado war nicht mehr einzuholen, aber den Kampf Körper an Körper mit dem Spanier Manuel Olmedo, den gewann er. Am Ende hatte er zwei Hundertstelsekunden Vorsprung. Schlangen lief 3:43,52 Minuten, es war ein langsames, taktisches Rennen.

Das Abdriften in den Trancezustand spielt eine nicht unbedeutende Rolle bei dem Satz, den Schlangen eine Stunde nach seinem Erfolg sagte: „Ich sehe eigentlich keine Krise des deutschen Laufs.“ Er bezog auf die Mittel- und Langstrecken, er dachte auch an die Talente in seiner Trainingsgruppe, die seine Tipps annehmen.

Es ist eine Frage des Maßstabs. Gemessen an der absoluten Weltspitze steckt Deutschland auf den längeren Laufstrecken in einer Krise. Die Afrikaner dominieren diesen Bereich. Schlangen hat jedoch auch Recht. Es gibt keine Krise des deutschen Laufens. Nicht, wenn man den ganzen Laufbereich einbezieht und wenn man die Maßstäbe vernünftig setzt.

Laufen ist emotional der Kernbereich der Leichtathletik. Hier passieren die packendsten Duelle, hier lassen sich am meisten Zuschauer fangen. Sie lassen sich fangen von einem wie Schlangen. Der verkörpert jenen Typus, der verhindert, dass es eine deutsche Laufkrise gibt. Die Deutschen haben keine Läufer, die wie programmiert Medaillen sammeln. Aber sie haben immer wieder Athleten, die über sich hinauswachsen. Entweder, weil sie wie in Trance laufen oder weil sie taktisch alles richtig machen. Und dazu noch das Glück des Augenblicks nutzen.

Jan Fitschen ist so ein Fall. Bei der EM 2006 lief er das Rennen seines Lebens, so schnell wie noch nie, und am Ende war er Europameister über 10 000 Meter. Die nächste Sensation in Göteborg: Ulrike Maisch, die eigentlich nur unter die besten Zehn wollte und dann die erste deutsche Marathonläuferin wurde, die bei einer internationalen Meisterschaft Gold gewonnen hat. Bei der WM 2001 rannte Ingo Schultz quasi aus dem Nichts zur Silbermedaille über 400 Meter. Erst ein Jahr zuvor hatte er überhaupt ernsthaft mit dem 400-Meter-Training begonnen. Bei der EM 2002 sicherte er sich Gold.

Seriensieger haben ihren eigenen medialen Stellenwert. Die Tatsache, dass jederzeit ein Athlet für eine positive Überraschung sorgen kann, verschafft der Leichtathletik aber auch ihren Reiz. Wer hatte schon mit Verena Sailer als 100-Meter-Siegerin gerechnet? Zur Unberechenbarkeit gehören allerdings auch Patzer. Das Aus der deutschen Frauen-Sprintstaffel im Vorlauf zum Beispiel. Beim letzten Wechsel von Anne Möllinger zu Sailer fiel der Staffelstab zu Boden – die aussichtsreich gestarteten Frauen waren ausgeschieden.

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