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Sport: Linke Gerade in der Sackgasse

Jürgen Brähmer boxt heute um einen Titel – auf der Straße hat er schon verloren

Von Michael Rosentritt

Schwerin. Für Jürgen Brähmer ist das Leben ein großer Boxkampf. 24 Jahre jung ist der Stralsunder, und doch hat er schon gekämpft für zwei Leben. Das mitunter an den falschen Plätzen. 1998 muss er das erste Mal wegen schwerer Körperverletzung ins Gefängnis. Seitdem hat Brähmer 23-mal als Berufsboxer im Seilgeviert gekämpft und alle seine Gegner besiegt, davon 20 durch k. o. Die Gegner gehen ihm aus. Brähmer ist auf dem Weg nach oben, nach ganz oben. Bis Anfang September. Da beendet Jürgen Brähmer die Diskussion um einen von ihm verschuldeten Auffahrunfall in einer Sackgasse mit einer linken Geraden. Er kommt in Untersuchungshaft. Klaus-Peter Kohl, der Chef der Hamburger Universum Box-Promotion, hinterlegt für sein unberechenbares Zugpferd eine Kaution in Höhe von 125 000 Euro. Vergangenen Dienstag wird Jürgen Brähmer entlassen. Das Amtsgericht Schwerin setzt den Haftbefehl außer Vollzug, weil keine Fluchtgefahr besteht. Heute boxt der Supermittelgewichtler um den WBC-International-Titel gegen den Argentinier Omar Eduardo Gonzalez in Schwerin. Für den Kampfabend haben sich so viele Reporter und Kamerateams akkreditieren lassen wie zu Zeiten Henry Maskes. Jetzt ist wieder einer da. Nur mit umgekehrten Vorzeichen. Der einschlägig vorbestrafte und rückfällig gewordene Boxer bestimmt eine Woche lang die Nachrichtensendungen. „Ich bin voll motiviert und fühle mich gut“, sagt Brähmer in vorübergehender Freiheit.

Mit 14 steht Brähmer das erste Mal im Boxring. Hochsprung und 800-m-Lauf sind dem Bezirksmeister in diesen Disziplinen zu langweilig. „Boxen ist der vielseitigste und ästhetischste Sport, den es gibt“, sagt Brähmer zu jener Zeit. 1994 wird er deutscher Jugendmeister, zwei Jahre später Juniorenweltmeister auf Kuba. Die Boxexperten rund um den Globus horchen auf. Brähmer ist der einzige Nicht-Kubaner, der einen Titel holt. „Ich hatte bis dahin so ziemlich alles gewonnen“, sagt Brähmer. „Es ging alles ganz fix.“ Offenbar zu fix. Brähmer, der neben vier Brüdern und zwei Schwestern bei seiner Mutter aufwuchs, findet plötzlich übermäßig Gefallen an Spirituosen. Schließlich lässt er seine Fäuste auf der Straße fliegen.

Brähmer hat keine Lust mehr auf das tägliche Training. Er zieht es vor, um die Häuser zu ziehen. Er verschludert sein außergewöhnliches Talent. Bei den Amateuren kommt er so noch ganz gut über die Runden. Von 100 Kämpfen für den SC Schwerin gewinnt er 95. Seinem ehemaliger Landestrainer Otto Ramin, der ihn oft angezählt und ihm Auszeiten gegeben hatte, reißt der Geduldsfaden. „Den musstest du an die Kette binden. Du konntest ihm nicht mehr als drei Meter geben.“

Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der kantige, wortkarge Bursche mit dem Gesetz kollidieren wird. Brähmer prügelt sich, knackt Autos, begeht Fahrerflucht und schliddert in die rechte Szene. Eines Abends hat Brähmer 2,8 Promille intus, er wird „provoziert“, wie er später vor Gericht angibt. Brähmer wehrt sich auf seine Weise – er schlägt zu. Dreieinhalb Jahre Jugendstrafe ohne Bewährung wegen schwerer Körperverletzung lautet im Frühjahr 1998 das Urteil. So k. o. ging nicht einmal Graciano Rocchigiani.

Manager Klaus-Peter Kohl („Ein Jahrhundert-Talent – er wird mein deutscher Vorzeigeboxer“), unterbreitet dem Häftling ein Angebot. „Plötzlich hatte ich ein Ziel“, sagt Jürgen Brähmer. „Er ist ein Prototyp des Jugendlichen, der nach der Wende allein gelassen wurde“, heißt es später aus dem Universum-Stall. Im Gefängnis hat er keine Probleme. „Ich will einfach meine Ruhe haben“, sagt Brähmer, als er die Haft antritt. Im Dezember 1999 wird er Freigänger der JVA in Hamburg-Wandsbek. Tagsüber trainiert er im Gym von Universum an der Seite der Klitschkos. Zwischendrin schicken sie ihn von Universum zum Logopäden, der dem begabten Boxer das Stottern abgewöhnen soll. Im Gefängnis absolviert Jürgen Brähmer eine Kurzausbildung zum Schweißer, absolviert ein Anti-Aggressionstraining und lernt sogar Schach. Michael Timm, früherer Europameister aus Schwerin und seit 1997 Trainer bei Universum, fungiert als Bewährungshelfer. Oft muss er die kantige Karriere seines Schützlings begradigen. Timm kennt die Kraft und die Schwächen Brähmers. Sein Motiv: „Ich will helfen, Menschen an ihr Ziel zu bringen.“

Im September 2000 wird Brähmers Haftstrafe vorzeitig ausgesetzt. Bei Universum in Hamburg sind sie guter Dinge. Ihr größtes Talent scheint sich gefangen zu haben. „Das ist der Junge, auf den wir am wenigsten achten müssen. Das waren doch Jugendsünden“, sagt Universum-Geschäftsführer Peter Hanraths. Brähmer entwickelt sich tatsächlich prächtig. Und er verspricht mittelfristig Rendite. Neunmal boxte er allein im vergangenen Jahr. Normal sind fünf, maximal sechs Kämpfe. Als Einmarschmusik für seine Auftritte hat sich Brähmer einen Queen-Song ausgesucht: „I want to break free“ - „Ich will frei sein“.

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