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Sport: Live aus dem Elfenbeinturm: Das Große im Kleinen

Möglicherweise wird man unsere Zeit einmal als eine kennzeichnen, in der die einzigen Werte, die für alle verbindlich galten, die des Laktats waren. So beschrieben befände sich die Gesellschaft derzeit in einem Zustand, den nicht zuletzt der moderne Fußballprofi besonders hasst: dem Trainingslager.

Möglicherweise wird man unsere Zeit einmal als eine kennzeichnen, in der die einzigen Werte, die für alle verbindlich galten, die des Laktats waren. So beschrieben befände sich die Gesellschaft derzeit in einem Zustand, den nicht zuletzt der moderne Fußballprofi besonders hasst: dem Trainingslager. Ein Ort also, wo man in der konzentrierten und stets angespannten Atmosphäre der Kleinstgruppe angehalten bleibt, die eigene Belastungsgrenze jeden Tag aufs Neue zu übersteigen. Ob das in Marbella oder Marzahn geschieht, ist dabei eigentlich nebensächlich. Das bisschen Ruhe geht sowieso fürs Schlafen drauf.

Im entscheidenden Gegensatz zur arbeitenden Bevölkerung allerdings weiß ein Fußballstar meist präzise anzugeben, wofür er sich derart schweißtreibend duckt und streckt, wofür er robbt, sprintet und anderen von hinten in die Beine grätscht. Unsere Helden nämlich haben, zumal in einer Weltmeisterschaftssaison, die ganz großen Ziele noch direkt vor Augen. Zwar ist bekannt, wie lächerlich schmal das Trainingsprogramm der Fußballer im Vergleich zu anderen Spitzensportlern ist, aber in diesen Wochen des Winters müssen auch sie sich ordentlich quälen. Ohne schmerzgestählte Kondition ist im modernen Fußball selbst das Genie verloren. Zu Pelés oder Beckenbauers Zeiten - die ausführlichen Retrospektiven im Fernsehen zeigen es deutlich - war das noch anders. Herrlich anzusehen, diese gelassene Fertigkeit der Legenden. Aber was ihnen damals für eine Muße blieb, unvorstellbar, heutzutage.

Selbstverständlich lässt sich diese Gewissheit auch in Zahlen ausdrücken. Mit dem 90-Minuten-Pensum des Carsten Ramelow (zehn bis zwölf Kilometer) wusste ein Günter Netzer drei volle Auswärtsspiele zu bestreiten. Damals, Sie wissen schon, als es noch tödliche Pässe gab. Es liegt nahe, hier mit einem Nachruf auf den entscheidenden, den "großen Pass" fortzufahren, doch dem darf nicht nachgegeben werden. Es gibt ihn immer noch, den Pass, der dem Spiel eine Wende gibt. Nur ist er sehr viel schwerer auszumachen. Zum einen, weil er sich oft hinter dem ausgezehrten Gesicht eines Didi Hamann verbirgt. Vor allem aber, weil dieser Pass viel kürzer ist und keineswegs direkt zum Tor führt. Dieser kleine Pass, oft kaum zehn Meter weit aus der engen Zone hinter dem Mittelkreis gegeben, scheint heute tatsächlich zur "Form par excellence der imaginativen Erfindung" (Lyotard, La condition postmoderne) geworden zu sein.

Das im Weltklassebereich vorzufindende Niveau an spielsystematischer Differenzierung bei gleichzeitig stark erhöhtem physischen Leistungsvermögen sorgte für eine ungeheure Intensivierung des Mittelfeldgeschehens, so dass diesem kleinen Pass zunehmend die Rolle des eigentlich spielbestimmenden Elementes zuwächst. Dieser Pass ist nicht dazu bestimmt, unmittelbar durchzudringen, er sucht in der filigranen Nutzung kleinster Lücken, aus der Bedrängnis des alltäglichen Hin und Her heraus, dem Spielaufbau eine erste konstruktive Richtung zu geben. Es geht um eine unscheinbare, fast schon hinterhältige Verlagerung, deren subversives Potenzial erst dann offensichtlich wird, wenn es im Netz bereits fröhlich zappelt und also zu spät ist.

Nicht zuletzt ist dieser Pass geradezu das Gegenteil von Effekthascherei und oberflächlichem Spielwitz. Die These von der zunehmenden, postmodernen Notwendigkeit, als Fan das Große im Kleinen, das Entscheidende im Unscheinbaren schätzen zu lernen, hätte aufs Ganze gesehen durchaus etwas Befreiendes an sich. Nicht nur wäre man so wirksam gegen den massiven Event-Kult der Vermarkter gefeit. Auch die Rede vom Erfolg, den man sich immer wieder hart erlaufen und erarbeiten muss, bekäme so einen nachvollziehbaren Sinn.

Am wichtigsten aber vermittelte dieses Modell des kleinen Passes tatsächlich das Bewusstsein, dass auch wir Ramelows den Zwängen und Anforderungen des großen Spiels nicht vollends ausgeliefert zu sein. Und schließlich: Vermögen die Großmeister in Wissenschaft und Kultur derzeit etwa mehr, als das Gebiet gründlich abzugrasen und dabei den einen oder anderen Kurzpass zu spielen? In der Gelassenheit, mit der unsere nationalen Laktatwunder Ramelow und Hamann den Spott über das Los ihrer fehlenden Größe ertragen, mag deshalb etwas Hoffnungsvolles liegen. In jedem Fall befindet sich ihr Spiel auf der Höhe der Zeit.

Nächsten Sonntag: Der Sonntagsschuss von Christoph Biermann.

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