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Sport: Live aus dem Elfenbeinturm: In der Spur des Anderen (I)

Schon ihr Zeitraum gibt zu denken: zwischen den Jahren, wann ist das eigentlich? In jener Phase unseres zyklischen Erlebens, wo die Besinnlich- langsam in die Besinnungslosigkeit übergeht, liegt sie seit einem halben Jahrhundert und vermittelt dort, geben wir es zu, ein Gefühl von Konstanz, wenn nicht Heimat.

Schon ihr Zeitraum gibt zu denken: zwischen den Jahren, wann ist das eigentlich? In jener Phase unseres zyklischen Erlebens, wo die Besinnlich- langsam in die Besinnungslosigkeit übergeht, liegt sie seit einem halben Jahrhundert und vermittelt dort, geben wir es zu, ein Gefühl von Konstanz, wenn nicht Heimat. Sie, die Vierschanzentournee.

Mehr als je zählt sie zu den zwei, drei Fixpunkten im Fernsehkalender, die einfach nicht verpasst werden dürfen, will man, um im Jargon der Familie Thoma zu sprechen, "mid dabbei sei". Seit RTL sich unserer Buben kommerziell angenommen hat, wird die Skisprungzunft gar als Formel 1 des Winters gehypt. Das klingt zwar abstoßend, aber die beiden Sportarten sind in der Tat Brüder im Geiste. Auch wenn im direkten Vergleich alles, aber auch alles für das Skispringen mit seinen noch schamhaften Protagonisten, seinem vergleichsweise natürlichem Umfeld und der ästhetisch ansprechenden Komponente des freien Fluges spricht. Nicht nur deshalb aber stellt die allgemein vertretene These von der sportlichen Übervaterrolle des Rennsports eine Umkehrung des tatsächlichen Entwicklungsganges dar. Denn strebte man - sinnlos genug - eine generationsverbindliche Erklärung für den dramatischen Popularitätszuwachs der Formel 1 in den frühen 90ern an, führte die einzig erfolgversprechende Spur direkt zurück zum Neujahrsspringen von Garmisch-Partenkirchen und seiner Erlebnisstruktur der "frei schwebenden Bewusstlosigkeit". Für diese alljährlichen und immer wieder schönsten Fernsehereignisse unserer Jugend nämlich gilt im Besonderen, was der große Falco (so benannt nach einem DDR-Skispringer!) einst allgemein über die 80er Jahre erkannte: Wer sich an sie erinnern kann, hat sie nicht erlebt. Da lag man wie jedes Jahr und konnte nicht anders.

Der erste zaghafte Versuch der Nahrungsaufnahme ist gerade gescheitert, und all die guten neuen Vorsätze haben sich längst auf den einen jämmerlichen Gedanken reduziert, einfach jemand anders sein bzw. nie wieder saufen zu wollen. Etwa zu diesem Zeitpunkt erster dunkler Ahnungen wird eine Schar namenloser Vierzehnjähriger über den Backen geschickt, um Wind und Weite erst einmal gründlich auszutesten, damit später nichts schief läuft, wenn die Nykänens von einst und die Schmitts von heute sich wagemutig in die Tiefe stürzen. Nein, man fühlt sich zwar scheußlich, aber mit diesen Muggels wollte man dann doch um keinen Preis tauschen. Der erfahrene Skisprungkonsument weiß überdies, dass ab jetzt noch gut zwei Stunden Zeit sind, um das Bewusstsein wieder zu erlangen. Das schaffst du, denkt es in dir, und in das neue Jahr hinein keimt erstmalig so etwas wie Hoffnung. Mir sin wieder dabbei. Bis die nur zu vertrauten Favoriten am Ende des zweiten Durchgangs jenseits des kritischen Punktes landen werden, kann man das sonstige Geschehen im mentalen Stand-by-Modus an sich vorüberziehen lassen. Solange beim Springen nämlich nicht wirklich was passiert, passiert sehr lange wirklich nichts.

Die Spannungskurve der Formel 1, des hässlichen großen Bruders, unterscheidet sich dabei lediglich durch den Zeitpunkt, an dem der Zuschauer sein sonntägliches Restadrenalin ausschüttet: Bei den Springern liegt er am Ende des Nachmittags, bei den Rennfahrern hingegen gleich zu Beginn. Der Rest ist flach, sehr flach sogar. Seit das Überholen zur Rarität geworden ist, herrscht nach dem anregenden Verdrängungskampf der ersten Kurve oftmals nichts als die künstliche Öde eines Schumacher-Lächelns.

In der scheinbar beruhigenden Abwesenheit von Ereignissen, dem belanglosen Sprung um Sprung des stets geschlagenen Feldes, liegt wohl auch der paradoxe Reiz des Flugspektakels begründet. Denn das Skispringen ist, genau wie sein mächtiges Fernsehpendant, von einer jederzeit spürbaren und gerade deswegen besonders unheimlichen Anwesenheit eines Abwesenden durchdrungen. Schließlich fährt es bei jedem Anlauf und in jeder Kurve mit, und jeder weiß es, das Andere des Todes. Die These ist vielleicht zu stark, aber es scheint tatsächlich, als ob die einzigen Sportarten, die an das Fernsehinteresse der großen Ballspiele heranreichen können, solche sind, in denen die Athleten vor aller Augen ihre körperliche Unversehrtheit riskieren. Ihren Fuß ganz bewusst in die Spur des Todes setzen. Ob dieses leicht verdrängten und gerade deshalb stets anwesenden Kitzels scheinen sie jedenfalls wie geschaffen für jene Stunden, die, vormals noch auf ausgesuchte Termine beschränkt, schon lange zum festen Bestandteil unserer Quality-time geworden sind.

Was meine Generation, die entgegen einem weit verbreitetem Vorurteil übrigens weder Golf fährt noch spielt, in die sonntäglichen Arme der Formel 1 trieb, war also im Kern nichts anderes als die unerfüllte Sehnsucht nach dem sportlichen Ausgleich des Neujahrsspringens, den wir in früh verkaterter Jugend noch in der Geborgenheit des Elternhauses erleben durften. Mit dem einen Auge den Kamillentee fixierend, mit dem anderen ins neue Sportjahr wesend, so wird es auch diesmal sein. Sollte aber, was keiner hofft, irgendwo um Startnummer 30 doch mal eine üble Böe von rechts kommen, dann schießen wir blitzschnell aus der Hocke des Halbschlafes empor, strecken Brust und Hals weit nach vorne und sind auch 2002 wieder voll "mid dabbei". Es braucht wohl nicht eigens erwähnt zu werden, wie furchtbar schlecht wir uns dabei fühlen.

Mehr zur Tournee schon nächste Woche.

Christoph Biermann ist mit dem Fußball in der Winterpause, deshalb auch nächsten Sonntag "Live aus dem Elfenbeinturm" von Wolfram Eilenberger.

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