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Sport: „Lothar saß da und weinte“

Meine EM – in unserer Serie erinnern sich deutsche Nationalspieler an ihre besonderen Turnier-Momente. Heute Folge 3: Bernard Dietz über den Gewinn der Europameisterschaft 1980 und ein seltsames Erlebnis mit Matthäus

Es ist schon seltsam, welche Gedanken einem im Moment seines größten sportlichen Erfolges durch den Kopf gehen. Das Finale war gerade abgepfiffen, wir hatten Belgien 2:1 geschlagen, waren Europameister – und mir wurde auf einmal ganz mulmig zumute. Ich habe nur noch gedacht: „Ach, du Schande, jetzt musst du da hoch zur Siegerehrung, du, der Dietz Bernard aus Bockum-Hövel.“ So schlimm war es dann doch nicht. Der Weg zur Ehrentribüne lief wie in einem Film ab, ich habe den Pokal in Empfang genommen, das war’s. Heute ärgere ich mich, dass ich diesen Moment nicht stärker genossen habe.

Nach der Siegerehrung ist alles von mir abgefallen, die ganze Anspannung, auch die Anstrengung, die uns das Finale bereitet hat. Die Belgier waren damals ein unangenehmer Gegner. Sie spielten mit Abseitsfalle und beherrschten die nahezu perfekt. Trotzdem hat Horst Hrubesch uns 1:0 in Führung gebracht. Nach der Pause glichen die Belgier durch einen aus meiner Sicht unberechtigten Elfmeter aus. Alles deutete auf Verlängerung, da bekamen wir noch mal von der linken Seite einen Eckball. Karl-Heinz Rummenigge schlug den Ball an den Fünfmeterraum, genau auf den Kopf von Hrubesch, und der köpfte zum 2:1 ein. Zum Glück, ich glaube, dass wir in der Verlängerung Probleme bekommen hätten.

Nach dem Schlusspfiff haben wir uns alle auf Toni Schumacher gestürzt. Er war erst kurz vor dem Turnier unsere Nummer eins geworden, weil sich Norbert Nigbur verletzt hatte. Toni war sensationell, ein Verrückter. Auch im Training kannte er keine Freunde: Wenn wir uns den Ball mal einen oder zwei Meter zu weit vorgelegt hatten, hat er uns einfach umgegrätscht. Im Training! Aber die ganze Mannschaft hatte diesen Geist. Wir sind Europameister geworden, weil wir es wollten.

Ich finde es ein bisschen traurig, dass eigentlich immer nur von der 72er Mannschaft gesprochen wird, fast nie von uns. Wir waren 1980 nicht weniger gut. Man muss sich nur einmal die Namen auf der Zunge zergehen lassen: Uli Stielike, Hansi Müller, Bernd Schuster, Klaus Allofs, Karl-Heinz Rummenigge – alles Jungs, die fußballerisch was draufhatten. Seit Jupp Derwall Helmut Schön nach der WM 1978 als Bundestrainer abgelöst hatte, da hatten wir nicht verloren. Zweieinhalb Jahre blieben wir unbesiegt. Wir waren eine eingespielte Truppe, es gab keine Cliquen. Für mich war das eine herrliche Zeit. Aus den Spielen mit der Nationalmannschaft habe ich immer sehr viel Kraft in den Verein und in den Abstiegskampf mit dem MSV Duisburg mitgenommen. Dass ich 19 Mal Kapitän für das Team war, habe ich als große Ehre empfunden. Ich war ja nicht das überragende Talent, ich habe mir alles erarbeitet.

Mit dem EM-Titel haben wir einen Platz in der Fußballgeschichte sicher, ich selbst habe zumindest noch eine Fußnote hinzugefügt. Deutschlands Rekordnationalspieler Lothar Matthäus hat mir sein erstes von 150 Länderspielen zu verdanken. Lothar war damals 19, er hatte seine erste Saison bei Borussia Mönchengladbach hinter sich, und schon seine Nominierung ist eine Geschichte für sich. Kurz vor der EM haben wir uns mit der Mannschaft in Frankfurt zu einem gemeinsamen Theaterbesuch getroffen. Als ich nach der Aufführung wieder in den Bus stieg, saß Lothar da und weinte. „Was ist denn los?“, habe ich ihn gefragt. „Der Herr Derwall hat mir gesagt, dass ich im Kader für die Europameisterschaft bin.“ – „Das ist doch klasse.“ – „Aber ich habe meiner Freundin doch versprochen, dass wir zusammen in Urlaub fahren.“

Ein paar Wochen später, in unserem zweiten Gruppenspiel gegen Holland, habe ich dann bemerkt, dass sich Lothar die ganze Zeit draußen warmlief. Wir führten 3:0 durch drei Tore von Klaus Allofs, die Sache war eigentlich gelaufen, und trotzdem wollte niemand vom Platz. Nicht gegen Holland. Ich habe eine kleine Verletzung vorgetäuscht, damit Lothar eingewechselt werden konnte. Kaum war er auf dem Feld, haute er kurz vor dem Strafraum einen Holländer um. Es gab Elfmeter, 1:3, und fünf Minuten vor Schluss fiel auch noch der Anschlusstreffer. Draußen auf der Bank ist mir der Angstschweiß ausgebrochen. Aber wir haben den Sieg über die Zeit gerettet und waren schon vor dem letzten Spiel für das Finale qualifiziert. Damals gab es ja nur zwei Gruppen, und die Sieger kamen direkt ins Endspiel.

Zu einem weiteren Einsatz ist Lothar Matthäus während des Turniers nicht mehr gekommen, Bernd Schuster hingegen war damals schon Stammspieler. Mit ihm zusammenzuspielen, das war einfach ein Erlebnis. Umso ärgerlicher ist es, dass die EM 1980 das einzige Turnier war, das er für die Nationalmannschaft bestritten hat. Und noch ärgerlicher ist, wenn man weiß, warum er nicht mehr für Deutschland spielen wollte. Zum Bruch kam es im Jahr nach der Europameisterschaft. Die Stimmung in der Mannschaft war längst nicht mehr so gut wie noch bei der EM, es hatten sich wieder Grüppchen gebildet. Nach einem Länderspiel in Stuttgart hatte Hansi Müller die Mannschaft zu sich nach Hause eingeladen. Nur Bernd Schuster war ins Hotel gefahren, weil er früh am nächsten Morgen zurück nach Barcelona fliegen musste. Einige haben dann den großen Max markiert: „Da fehlt doch einer! Der hat das wohl nicht nötig.“ Irgendwann hat das auch der Bundestrainer mitbekommen. Nachts um eins hat Jupp Derwall Bernd Schuster aus der Nationalmannschaft geworfen. Das war einfach beschämend.

Aufgezeichnet von Stefan Hermanns.

Bernard Dietz

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