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© dpa

Lucien Favre: Hinterm Horizont geht’s nicht mehr weiter

Der geschasste Hertha-Trainer Lucien Favre macht den Verein für den Absturz verantwortlich – und lobt Dieter Hoeneß.

Berlin - In der Mitte seines Vortrages, der später als Abrechnung, Nachtreten oder Abschiedsrede interpretiert wird, je nachdem, wie man zu ihm steht, mittendrin also sagt Lucien Favre einen Satz von philosophischer Tiefe: „Erfahrung ist immer eine Summe von Fehlern.“

Berlin muss eine nachhaltige, eine reiche Erfahrung für ihn gewesen sein.

Acht Tage nach seiner Entlassung, die im juristischen Sinne natürlich keine Entlassung ist sondern eine Freistellung, hat Favre ins Hotel Adlon geladen. An den Pariser Platz, dort, wo sich das alte und das neue Berlin treffen. Favre hätte aus Hertha BSC gern etwas Neues gemacht. Einen modernes Fußball-Unternehmen, das dem Anspruch einer dynamischen Metropole gerecht wird, ein Äquivalent zum FC Chelsea, zu Real Madrid oder Inter Mailand. Eine Mannschaft, die mittelfristig um die deutsche Meisterschaft mitspielt und später wie selbstverständlich fester Bestandteil der Champions League ist. Das hat nicht ganz geklappt.

Hertha BSC steht in der Tabelle auf Platz 18, tiefer geht es nicht mehr, jedenfalls nicht in der Ersten Bundesliga. Als neuen Trainer hat der Verein einen Mann verpflichtet, dessen Horizont noch nie über das diffuse Mittelfeld hinausreichte. Lucien Favre hinterlässt einen Klub, für den das Mittelmaß das höchste aller Ziele ist.

Favre ist immer stolz gewesen auf besondere Momente, auf Szenarien, die niemand erwartet hat. Auf, aber auch neben dem Platz. Genauso hält er es mit seinem Abschied. Ob Präsident Werner Gegenbauer, Manager Michael Preetz oder Kotrainer Harald Gämperle – Favre zerlegt in den 26 Minuten am Brandenburger Tor alle vermeintlichen Freunde. Dafür reichen zwei Sätze, sie sind seinem vermeintlichen Gegenspieler gewidmet: „Hertha BSC hat den Abschied von Dieter Hoeneß nicht verkraftet. Dieser Umstand hat meine Arbeit erschwert.“

Das klingt auswendig gelernt und ist, schlimmer noch, abgelesen von einem Stoß Manuskriptblätter, Favre zaubert sie aus den Tiefen seiner Aktentasche. Um Punkt zehn Uhr betritt er das Podium im Kleinen Wintergarten des Adlon.  Angekündigt sind Bilanz und Ausblick, sorgsam ausgearbeitet wie die endlosen DVD-Sitzungen, mit denen er seine Spieler zunächst fasziniert, mit zunehmender Zeit aber auch immer mehr gelangweilt hat. Es entwickelt sich ein skurriles Schauspiel, inszeniert als Frage-Antwortspiel mit seinem Beraterteam. Zwei Einflüsterer nehmen Favre in die Mitte, und man darf wohl davon ausgehen, dass sie sich das Ganze ausgedacht haben. Auch die Schmeicheleien über seinen früheren Vorgesetzten, die in der Ergebenheitsadresse gipfeln: „Dieter Hoeneß hat mich nach Berlin geholt, dafür bin ich ihm sehr dankbar.“

Dazu muss man wissen, dass Favre eine, nun ja, reibungsvolle Zusammenarbeit mit Hoeneß pflegte, als dieser noch als Vorsitzender der Geschäftsführung das Schicksal von Hertha BSC verantwortete. Intern sprach er stets von „dem ohne Haare“, der ihm das Trainerleben zur Hölle mache. Auch unter dem Eindruck seiner Vorträge entschlossen sich Präsidium und Aufsichtsrat, eine vorzeitige Trennung von Hoeneß zu forcieren. Im Nachhinein beschwert sich Favre über „zu viele Kompromisse, und Kompromisse sind Fehler, denn man kann eine Mannschaft nicht mit den Ideen verschiedener Personen aufbauen“. Und: „Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich gegen eine Mauer fahre.“

Irritation macht sich breit im kleinen Wintergarten. Radioreporter rufen ihre Redaktionen an und improvisieren Live-Schaltungen. Favre liest weiter von seinem Blatt ab. Jetzt ist das Thema Transfers dran. „Das war meine große Stärke in der Schweiz“, auch bei Hertha habe er „nur Spieler mit Perspektiven gewollt, die wir weiter verkaufen können“. Auf die Nachfrage, wie sich das mit der Verpflichtung des 32 Jahre alten Artur Wichniarek vertrage,repetiert Favre das vorher gesagte. Hängen bleibt der kaum kaschierte Vorwurf, Hertha habe ihm für diese Saison völlig ungeeignetes Personal zur Verfügung gestellt. So jedenfalls macht auch die Bemerkung Sinn, Hertha müsse im Winter investieren, „nicht eine halbe Million, sondern zehn Millionen Euro“, und es sei schon „bemerkenswert, dass Herr Gegenbauer jetzt davon spricht“, da er, Lucien Favre, nicht mehr da sei. Doch auch ohne die eh nicht vorhandenen Millionen hätte er es sich zugetraut, den Abstieg zu verhindern, und keinesfalls habe die Mannschaft gegen den Trainer gespielt. Das Letzte ist eine Anspielung auf die Brandrede seines Assistenten Harald Gämperle, dessen Versuch einer Ehrenrettung Favre zur Privatmeinung abqualifiziert: „Wir haben Demokratie, jeder kann sagen was er will.“

Favres Einlassungen kommen bei Hertha nicht gut an. In einer Erklärung weist Manager Michael Preetz darauf hin, dass alle Personalplanungen einvernehmlich mit Favre getroffen worden seien, „dies betrifft auch Artur Wichniarek“. Und Präsident Gegenbauer lässt ausrichten, dass dem Trainer a.D. natürlich die prekäre Finanzlage des Klubs geläufig gewesen sei.

Was wird bleiben von Lucien Favre? Die Erinerung an einen großartigen vierten Platz, aber auch an einen Absturz, so steil, schnell und dramatisch wie ihn die Bundesliga noch nicht erlebt hat. Favre legt Wert darauf, dass es Herthas Absturz ist und nicht seiner. Dementsprechend will er seine Zukunft gestalten: „Ich will in einer großen europäischen Liga bei einem Klub arbeiten, der Ambitionen hat und etwas gewinnen will.“

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