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Sport: Lucios Läuterung

Vor Bayern Münchens Spiel bei Inter Mailand verspricht der brasilianische Verteidiger, nicht mehr so oft nach vorn zu gehen

Für Angehörige von Bayern München war das Bauwerk eine Stätte von fast heiliger Bedeutung, bis Anfang März zumindest. 2001 hatten die Münchner im Mailänder Giuseppe-Meazza-Stadion die Champions League gewonnen, und so glorreich sich dieser Triumph damals anfühlte, so verhängnisvoll gestaltete sich jenes Erlebnis, das sich dort vor gut sechs Monaten in ihre Erinnerung einbrannte: In beinahe boshafter Deutlichkeit waren der Mannschaft von Trainer Felix Magath damals die eigenen Unzulänglichkeiten aufgezeigt worden, bei jenem 1:4 gegen den AC Mailand, bei dem der Gegner vor allem die Schwächen des Defensivverbunds schonungslos offengelegt hatte.

Beim morgigen Auftritt an der gleichen Stelle gegen Milans Stadtrivalen Inter (20 Uhr 45, live bei Premiere) steht beim deutschen Fußball-Rekordmeister nicht nur deswegen vor allem die Abwehr unter verstärkter Beobachtung. Auch in der Bundesliga zeigt sich die Deckungsreihe anfällig, und ungewohnt deutlich richtet sich die Kritik derzeit speziell an einen Adressaten – an jemanden, der bislang eigentlich nur Lob gewohnt war: Lucimar da Silva Ferreira, genannt Lucio.

Hauptanklagepunkt: unentschuldigtes Entfernen vom Arbeitsplatz. Er solle für seinen Arbeitgeber künftig gefälligst so diszipliniert spielen „wie in der brasilianischen Nationalmannschaft“, ordnete Karl-Heinz Rummenigge Ende vergangener Woche an. Was nicht nur Bayerns Vorstandschef zunehmend stört, sind jene seltsamen Ausflüge, bei denen Lucio mit dem Ball am Fuß wie ein wütender Stier in der Arena nach vorne prescht – was nicht nur unorthodox aussieht, sondern auch ernste Gefahren für Ordnung und Sicherheit der Münchner Verteidigung birgt.

Bei Lucios unerwünschten Beiträgen zum Angriffsspiel handelt es sich freilich keineswegs um ein neuartiges Phänomen. Schon zu seiner Leverkusener Zeit unternahm der Weltmeister von 2002 derlei ungestüme Exkursionen in des Gegners Hälfte gern und regelmäßig. Bislang goutierten die Münchner Verantwortlichen diese Spielweise, meist mit Hinweis auf die Torgefahr und das edle Motiv des Möchtegernstürmers: Er wolle auf diese Weise seine Kollegen mitreißen, hieß es stets zu seiner Entlastung.

Bei genauerer Betrachtung erweisen sich diese Einwände jedoch als wenig stichhaltig: Mit fünf Treffern in 67 Bundesliga-Spielen hat Lucio eine eher durchschnittliche Erfolgsbilanz für einen Verteidiger eines Topteams, weitaus höher ist die Quote unnötiger Ballverluste, die aus seinen Ausflügen resultieren.

Zudem scheinen die Mitspieler durch Lucios hemmungslose Spielweise inzwischen weniger inspiriert denn genervt – wenngleich sie dies aus Gründen der Kollegialität allenfalls verklausuliert zum Ausdruck bringen. Oliver Kahn etwa verpackte seine kritischen Einlassungen jüngst in eine namenfreie Grundsatzrede, Daniel van Buyten, seit Saisonbeginn Lucios Compagnon in der Münchner Innenverteidigung und daher am unmittelbarsten betroffen, deutete ebenfalls nur zart an, dass er gegen eine etwas konservativere Spielweise seines Nebenmannes nichts einzuwenden hätte. Am deutlichsten wurde Rechtsverteidiger Willy Sagnol, der seine Bedenken, pädagogisch wertvoll, mit einem Lob verknüpfte: Lucio wolle immer gewinnen und daher die Mannschaft zum Erfolg treiben, „aber er ist Verteidiger“, und wenn er durch seine Umtriebigkeit Löcher in die defensive Grundordnung reiße, sei das „manchmal ein bisschen schwierig“ für die Abwehrkollegen. Speziell gegen Mannschaften des Kalibers von Inter Mailand „müssen wir disziplinierter spielen“, so Sagnol, was jedoch für alle gelte.

Der Angeklagte selbst hat das lauter werdende Rumoren vernommen, vor dem Abflug nach Mailand nahm er nun erstmals Stellung. Wenn jemand wie Rummenigge Kritik übe, so Lucio, habe er das zu akzeptieren. In der Tat sei er „im ersten Punkt Verteidiger“, gleichwohl gehöre es zu „meiner Charakteristik, dass ich auch nach vorne gehe“. Er klang entschlossen, sich jene Eigenheit keineswegs gänzlich abzugewöhnen – was er bereits beim Spiel gegen Aachen angedeutet hatte, als er erneut einige Male zu Soli ansetzte.

Gegen Inter wird dies möglicherweise seltener geschehen, denn Lucio schloss mit den versöhnlichen Worten, er sei bereit, sich künftig noch stärker auf seine Defensivpflichten zu konzentrieren, falls dies „gut für die Mannschaft“ sei. Genauso, wie er sprach, wollen sie Lucio auf dem Platz: defensiv verteidigend – zwar selbstbewusst, aber ohne unkontrollierte Attacken.

Daniel Pontzen[München]

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