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Sport: Manchmal boxt er, wie er Schach spielt

NEW YORK .Es ist bitter kalt in New York.

NEW YORK .Es ist bitter kalt in New York.Die Stadt friert und trauert um Joe DiMaggio.Der Tod der Baseball-Ikone ist das Thema.Nicht Holyfield gegen Lewis.Dennoch versammelt sich, wie um sich aufzuwärmen, eine Hundertschaft von Reportern vormittags im Church Street Boxing Gym in Brooklyn.Evander Holyfield (36) trainiert öffentlich - erst- und letztmals vor dem Showdown gegen Lennox Lewis (34) am Sonnabend im Madison Square Garden.Ein Geflecht von Wasser- und Heizungsrohren, Luftschächten und Eisenträgern verleiht dem Trainingskeller Rocky-Romantik.Ein Gym wie im Film.Keines dieser klinischen Fitneß-Studios.Joe Louis und Jack Dempsey, gemalt in Überlebensgröße, schauen von den schäbigen Wänden herab.Nostalgie nicht nur im Gym.Der altehrwürdige Madison Square Garden (MSG), vor den Casinos in Las Vegas das Mekka das Boxens, jazzt das Duell der beiden Weltmeister im Schwergewicht zum Ereignis wie der "Kampf des Jahrhunderts" zwischen Muhammad Ali und Joe Frazier vor 28 Jahren."Kein Vergleich" einigen sich die Veteranen unter den Reportern, die schon damals, am 8.März 1971, im Garden am Ring saßen.

Holyfield und sein Troß lassen fast eine Stunde auf sich warten, verschwinden durch einen schmalen Tunnel in einem engen Nebenkeller, wo jeweils nur eine kleine Schar beim Training zuschauen kann.Aerobic, Seilspringen, Sparring, Schattenboxen, Stretching, stets bei lauter Ghospel- und Rap-Musik, in die Holyfield immer wieder fröhlich einstimmt.Drei Runden lang prügelt der überaus bewegliche, erstaunlich aggressive Champion einen gewissen James Gaines, einen Hünen von 1,96 Meter wie Lewis, in der Halbdistanz mit schnellen Hakenserien durch den Ring.Das wird die Taktik sein, notieren die Reporter.

Holyfield sprüht vor Kampfeslust, strotzt vor Energie und Selbstbewußtsein und entblößt beim Hemdwechsel einen wie gemeißelten Oberkörper, der jedem Bodybuilder Komplexe bereitet.Der Modellathlet wischt sich den Schweiß vom kahlen Kopf, lehnt sich über die Ringseile zum Gespräch mit den Reportern."Acht Minuten", gestattet sein Betreuer Jim Thomas nach zwei Stunden Training.So ändern sich die Zeiten."Ali hätte acht Minuten trainiert und zwei Stunden mit uns geplaudert", spottet einer aus der alten Garde.Die aus Holyfields Mund höchst ungewöhnliche Prognose, er werde Lewis in der dritten Runde k.o.-schlagen, hat die Medien alarmiert.Große Sprüche waren bisher nicht Sache des gottesfürchtigen Mannes, passen nicht zu seinem aufrechten Charakter.Doch Holyfield steht zu seiner Aussage: "Ich bleibe bei der Wahrheit, und dies ist Fakt: Ich werde ihn bis zur dritten Runde k.o.-schlagen.Ich erwarte von niemandem, es zu glauben." Wie auf der Kanzel verheißt der Laienprediger der Medienschar, daß der Glaube ihn so stark mache.Er wolle Lewis weder einschüchtern noch provozieren."Lennox ist nur der Gegner, den ich k.o.- schlagen werde.Denn mein Selbstbewußtsein und das Wissen um meine Fähigkeit sind so groß, daß sie zwangsläufig zum Knockout führen werden." Die acht Minuten sind um.Holyfield rauscht in einer schwarzen gestreckten Lincoln-Limousine zum TV-Termin davon.

Für ihre Multimillionen-Börsen - Holyfield, der WBA/IBF-Champion, kassiert 20, Lewis, der WBC-Weltmeister, 10 Millionen Dollar - müssen die Fighter nicht nur trainieren und kämpfen, sondern auch um die Kundschaft fürs Pay-TV werben, das sie bezahlt.Lennox Lewis erfüllt seine Pflicht, einmal öffentlich in New York zu trainieren, nachmittags im Theater des MSG.Die so gegensetzlichen Räume passen zum Naturell der Rivalen: Hier Leidenschaft im schäbigen Gym, dort Phlegma im gediegenen Auditorium.Die Schulgymnastik mit dem einstigen Maske-Herausforderer Egerton Marcus, die Pratzenarbeit mit dem ehemaligen Rocchigiani-Trainer Emanuel Steward und das steife Schattenboxen erinnern an den statischen europäischen Stil.Erst als der so große und starke Bursche mit dem sanften und versonnenen Blick, die Rastazöpfe unter einer Wollmütze verpackt, zu Reggae-Rhythmen durch den Ring tanzt, kommt Geschmeidigkeit in seine Bewegungen.

Lewis spielt gern Schach.Zum Leidwesen Stewards boxe er auch manchmal so.Der sagt: "Ich hasse Schach.Die überlegen zu lange vor dem nächsten Zug.Lennox fehlen 25 Prozent Aggressivität." Lewis verteidigt sein Schachspiel ("Ich werde es Emanuel eines Tages beibringen") und findet Holyfields Ankündigung "amüsant".Die vierte Runde werde Holyfields Scheinheiligkeit bestätigen: "Er praktiziert nicht, was er predigt." Nun, sicher scheint nur, was Emanuel Steward prophezeit: "Es wird für lange Zeit der letzte große Kampf sein."

HARTMUT SCHERZER

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