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Sport: Marion Jones: Täglich eine Dosis Mrs. Jones

Marion Jones flimmert auf allen Kanälen. Die futuristischen Werbespots feiern sie als schnellste Frau auf dem Planeten.

Marion Jones flimmert auf allen Kanälen. Die futuristischen Werbespots feiern sie als schnellste Frau auf dem Planeten. Selbst der größte Baseball-Fan kann den neuen Darling Amerikas nicht mehr übersehen. Schaltet er die Glotze an, bekommt er automatisch seine tägliche Dosis "Mrs. Jones" serviert. Mal sprintet die Weltmeisterin durch einen Supermarkt, um die von ihrem kugelstoßenden Ehemann C. J. Hunter als Trainingsobjekte benutzten Grapefruits zu fangen. Dann fordert sie als cooler D. J., dass die US-Athleten in der Heimat mehr Liebe brauchen. Die ständige Berieselung zeigt bereits Wirkung, denn Jones kann sich vor Liebesbeweisen kaum retten. Immer mehr große Firmen klopfen an ihre Tür, um die charmante Botschafterin noch schnell als Werbeträgerin zu gewinnen. Noch ist in Sydney kein Startschuss gefallen, doch in den USA spricht man bereits von den Jones-Festspielen.

Dabei ist es eine riskante olympische Operation, die ihren Ursprung einem überaus gewagten Statement der Protagonistin verdankt. "Ich werde in Sydney fünfmal Gold holen", versprach Jones bereits 1998 und trat damit eine Lawine los. Heute gibt sie zu, von dem Monster überrascht zu sein, "das ich damit in den Medien kreierte". Doch fünfmal Gold auf Ansage - das gab es noch nie. Während Experten beim Gedanken an Siege über 100 m und 200 m, in beiden Staffeln (4 x 100 m, 4 x 400 m) und im Weitsprung skeptisch den Kopf schütteln, reibt man sich in den Vorstandsetagen von Corporate America genüsslich die Hände. Denn dies ist der Stoff, aus dem steigende Umsätze sind. Nike, General Motors und Gatorade reservierten sich vordere Plätze auf dem "vermeintlichen Triumphzug im Zeichen des Sternenbanners" ("Los Angeles Times"), mit Marion Jones als Lokomotive.

Auch NBC erkannte rasch die potenzielle Zugkraft der Athletin, um die sich im olympischen Programm des Fernsehgiganten alles drehen wird. "Wir werden aus ihren Auftritten eine Miniserie machen", sagte Sport-Programmchef Dick Ebersol, wobei sein Drehbuch locker mit quotenträchtigen Seifenopern wie "Dallas" mithalten kann. Erste Kostproben der emotionalen Handlung: Nachdem sie die Spiele von 1984 in Los Angeles im Fernsehen verfolgt hat, schreibt Jones als Achtjährige mit Kreide auf eine Tafel: "Eines Tages werde ich Olympiasiegerin sein." Da ist Vater George Jones, der die Familie und die erst zweijährige Marion verlässt und später alle Versuche der Athletin auf ein Versöhnungstreffen scheitern lässt. Oder das Drama um den geliebten Stiefvater Ira Toler, der an einem Herzinfarkt stirbt. Jones ist zwölf. Nicht zu vergessen die Romanze und spätere Hochzeit mit C. J. Hunter, die Mutter Marion Toler zunächst nicht will. Schließlich ist der Kugelstoßer geschieden und hat zwei Kinder, um deren Unterhalt die Ex-Frau vor Gericht kämpft.

Für NBC, das die gesamten Spiele aus Sydney nur zeitversetzt überträgt, ist dieser bewegte Lebenslauf ein Geschenk des Himmels. Denn man kann die Zuschauer zur besten Primetime schließlich nicht nur mit aufgezeichneten Wettbewerben vor den Bildschirm locken, deren Ergebnisse längst jeder kennt. Personality-Geschichten mit jeder Menge human touch, so heißt die neue Zauberformel in der Berichterstattung von NBC, und Jones ist die bei weitem am besten geeignete Partnerin. Sie legt sogar Wert darauf, dass die Öffentlichkeit von ihrem hürdenreichen Lebensweg erfährt. Ihre im Mai erschienene Biografie ("See How She Runs") entstand aus dem Bedürfnis heraus, allen mitzuteilen, "es nie einfach gehabt zu haben". Jones über Jones: "Das Publikum sieht bei einem 100-m-Rennen nur das Ergebnis, aber nicht die vielen Trainingsstunden. Dasselbe gilt für mein Leben. Ich habe eine Menge durchgemacht, nichts wurde mir auf einem silbernen Tablett serviert."

Bis auf die Dinge, die ihr in die Wiege gelegt wurden. Wie ihr erfrischendes Lächeln, ihre natürliche Schönheit, ihr Charme und Charisma. Gründe genug für die namhaften Magazine Amerikas, die Athletin auf dem Titel zu drucken. Wobei Jones auf einem Cover sogar als Domina in Lederklamotten glänzt. Es fällt in Amerikas Blätterwald schwer, andere Sportstars auf der Seite eins auszumachen. Da das Dream Team im Basketball längst keines mehr ist und Maurice Greene und Michael Johnson im großen Showdown bei den Trials verkrampften, bestimmt Jones vorerst allein das olympische Bild in der Kategorie Superstar. Die Vorschusslorbeeren sind enorm für eine Frau, die zuvor weder an Olympischen Spielen teilnahm noch einen Weltrekord aufstellte. "Marion hat die Chance, als erste Athletin die Grenzen des Sports zu übersteigen", sagt Craig Mashback, "aus meiner Sicht haben das bislang nur drei Menschen geschafft: Pelé, Muhammad Ali und Michael Jordan." Der Vorsitzende des amerikanischen Leichtathletik-Verbandes meint damit den Aufstieg zu einer Persönlichkeit, deren enorme Anziehungskraft quer durch die Geschlechter, Altersgruppen, Rassen und Nationalitäten geht.

Mashback drückt schon aus ganz eigennützigen Gründen bei der Operation Gold die Daumen. Der Verband, der nach den Spielen in Atlanta 1996 vergeblich auf einen Aufwärtstrend hoffte, wartet sehnsüchtig auf einen Heilsbringer. Jones wäre die perfekte Lösung, um die Leichtathletik im eigenen Land wieder salonfähig zu machen. "Es ist alles eine Frage der Personality", meint Rick Burton, "Carl Lewis sowie Michael Johnson besitzen Verhaltenselemente, die die Menschen und die Werbeindustrie irritieren." Marion Jones dagegen ist für den Sportmarketing-Experten der Universität Oregon das "ganze Paket", weil sie "fotogen ist, nett lächelt und einen nahbaren Eindruck macht - man muss sie einfach mögen". Und es steht außer Frage, dass die Werbemaschinerie bei einer gelungenen Mission in Sydney noch einen Gang zuschalten wird. Marion über alles. Reicher, schneller und immer weiter. "Dann", sagt Burton, "würde NBC sie ins Herz schließen und Nike weitere Werbekampagnen mit ihr fahren. Dann wäre sie ein Superstar."

So weit die graue Theorie und die vielen Worte. Für die goldenen Farbtupfer muss Jones bei einem mörderischen Programm erst noch sorgen. Zwar entwickelte Nike extra für sie im Windtunnel einen Rennanzug, der sie im gefürchtet böigen Stadion von Sydney zu Bestzeiten tragen soll. Im Weitsprung kann sie hingegen auf keine Hilfe hoffen. Dabei sind gerade hier die Chancen am größten, dass der angestrebte Rekord von fünfmal Gold in den Sand gesetzt wird. Carl Lewis bewertete es bereits als "unglücklich", dass Jones mit einer derartigen Vorhersage die Werbetrommel rührte: "Gewinnt sie drei oder vier Goldmedaillen, wäre sie der Star der Spiele. Aber nun hätte sie damit ihr angekündigtes Ziel verfehlt."

Stefan Liwocha

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