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Erster britischer Kuss nach 77 Jahren. Zum ersten Mal seit Fred Perry 1936 darf wieder ein Einheimischer der Wimbledontrophäe näherkommen. Foto: Reuters

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Sport: Mehr geht nicht

Andy Murray erlöst mit seinem furiosen Sieg in Wimbledon eine ganze Tennis-Nation.

London - Die Anspannung war für keinen der britischen Zuschauer mehr auszuhalten. Nicht für die 15 000 auf den Rängen des Centre Courts, nicht für jene 2000 vor der Videowand auf dem Hügel von „Henman Hill“ und noch weniger für die 17 Millionen vor den Fernsehern. Andy Murray war so dicht davor, Tennisgeschichte zu schreiben. Drei Matchbälle hatte er schon gehabt, aber Novak Djokovic wehrte sie unerbittlich ab. Nun musste es klappen. Niemand saß mehr auf seinem Sitz, sie johlten und klatschten laut wie nie zuvor. Murray schlug auf, und der Return des Serben kratzte so knapp die Grundlinie, dass die ersten schon aufschrien, doch es war noch nicht vorbei. Erst, als Djokovic die Rückhand ins Netz spielte, hatte der blasse Schotte aus Dunblane eine ganze Nation erlöst.

Murray reckte seine Fäuste in die Höhe und schrie alle Anspannung heraus. Dann sank er auf die Knie, stützte seinen Kopf auf dem Rasen ab und pustete durch. Er hatte nicht mehr geben können als an diesem Tag. Murray spielte das Match seines Lebens. „Mehr als Wimbledon geht einfach nicht“, sagte er, „aber ich werde lange brauchen, um es zu begreifen.“

Mit 6:4, 7:5 und 6:4 hatte er Djokovic in diesem packenden Endspiel bezwungen und damit die 77 Jahre währende Warterei auf der Insel endlich beendet. Der Nachfolger von Fred Perry war gefunden, der als letzter Brite 1936 in Wimbledon gewann. In dem Jahr gelang dem Boxer Max Schmeling ein K.o. gegen den legendären Joe Louis, und Murray musste sich an diesem Tag auch gefühlt haben, als sei er über zwölf Runden im Nahkampf gewesen.

„Ich weiß überhaupt nicht, was passiert ist, und wie ich den Matchball verwandelt habe“, sagte Murray später, „ich weiß nur, dieses letzte Aufschlagspiel war das schwerste meines Lebens.“ Er legte immer wieder die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. Murray war einfach fassungslos. Auch als er den goldenen Challenge Cup überreicht bekam und ihn küssen durfte, hatte es Murray immer noch nicht begriffen. Er hielt die Trophäe fest in seinen Armen wie ein Kind sein Lieblingsplüschtier.

Vor einem Jahr hatte es ihn nach dem Finale in Wimbledon noch fürchterlich übermannt. Einer der „schlimmsten Momente seiner Karriere“ sei es gewesen, sagte er nun. Mit seinen Tränen nach der Niederlage gegen Roger Federer jedoch hatte Murray die Herzen aller Briten erobert, zum ersten Mal. Dennoch brauchte er lange, um diesen Schmerz zu verkraften. Er wollte so gerne Wimbledonsieger werden, nicht bloß für seine Landsleute. Vor allem für sich selbst. Dass ihm bei den Olympischen Spielen auf dem selben heiligen Rasen kurz darauf doch der Sieg gelang, war ein Befreiungsschlag. Bei den US Open im Herbst gelang Murray im fünften Anlauf sein erster Grand-Slam-Titel.

An seiner Seite ist seit damals stets sein Trainer Ivan Lendl, der achtmalige Champion. Ein Wimbledonsieg war ihm jedoch selbst verwehrt geblieben, obwohl er so verbissen darum gekämpft hatte. „Ivan, der ist für dich“, sagte Murray und hielt den Challenge Cup in Richtung seiner Box. Lendl huschte ein Lächeln übers Gesicht und dieser Anblick ist noch seltener als ein britischer Sieger in Wimbledon.

Das Duell zwischen den beiden besten Spielern der Welt hielt, was es versprach. Sie spielten bedingungslos bei 40 Grad Hitze auf extrem hohen Niveau. „Es war so hart“, klagte Murray, „die Hitze, und wir haben uns alles abverlangt.“ Er spielte mit purer Willenskraft, brachte auch schier unerreichbare Bälle noch zurück. Die Zuschauer brüllten ihn mit „Andy, Andy“-Rufen beim 2:4 im dritten Satz zur Aufholjagd. „Das war wirklich die beste Unterstützung, die ich je hatte“, lobte er, „ich war am Ende wie in Trance.“ Es schien, als hätte nichts und niemand diesen furiosen Andy Murray an diesem Tag aufhalten können. Das Warten hatte sich gelohnt. Petra Philippsen

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