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Sport: Mein Freund, der Dieter

Am Ende gab es sogar Tränen. Die Rückkehr des Dieter Baumann auf die Tartanbahnen der Welt fand am Montagabend statt.

Am Ende gab es sogar Tränen. Die Rückkehr des Dieter Baumann auf die Tartanbahnen der Welt fand am Montagabend statt. Nicht am vergangenen Sonntag in der Westfalenhalle in Dortmund - dort wurde Baumann beim Internationalen Hallenmeeting Zweiter über 3000 Meter - und auch nicht am 5. Dezember 2001 in einem Büro des Internationalen Leichtathletik-Verbandes (IAAF) in Monaco, als die Dopingsperre gegen den Spitzensportler aufgehoben wurde. Die Rückkehr fand ganz privat statt, im "Sudhaus" von Tübingen. In die zum Kulturzentrum umfunktionierte alte Fabrik hatte Dieter Baumann am Montag seine Freunde, seine Eltern, seine Tanten und Onkels eingeladen, um mit ihm nach zweijähriger Zwangspause die Wiederentdeckung der Schnelligkeit zu feiern - ohne Fernsehkameras und Sportreporter.

So gelöst und ausgelassen hatte man ihn die Tage davor nie gesehen. Nicht bei seiner Buchvorstellung (Dieter Baumann: "Lebenslauf", Deutsche Verlags-Anstalt, 19,80 Euro), nicht bei der Pressekonferenz in Dortmund und auch nicht bei seinen zahllosen Interviews. Immer hatte Baumann jedes seiner Worte auf die Goldwaage gelegt. Nein, es gebe "keine Abrechnung" mit den Sportverbänden, wiederholte er ein ums andere Mal. Und doch lasen es die meisten ganz anders. Clemens Prokop, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, hieß es etwa, sei ein "aalglatter" Mensch, der immer "seinen eigenen Vorteil" im Auge habe. Und dessen Vorgänger Helmut Digel ein trauriger Funktionär. Dennoch versicherte Baumann: "Das ist keine Abrechnung, nur meine subjektive Sicht, wie ich alles erlebt habe."

Dass Baumann am Montagabend sogar einen Ordnungsdienst für den Parkplatz benötigte, illustriert am eindrucksvollsten, wie viele Freunde ihm in den zurückliegenden beiden Jahren ans Herz gewachsen waren. Geladen waren schließlich nur diejenigen, die ihm in der immer noch rätselhaften Doping-Affäre das Gefühl vermittelten, "nicht alleine zu sein". Ihnen gestand er an diesem Abend, wie er sich in das Manuskript seines Buches verbissen hatte, verbissen mit dem Reflex eines Kampfhundes. Rennen, schreiben, rennen, schreiben. So sahen die Tage von Dieter Baumann aus. Eines Tages, auf dem idyllischen umbrischen Bauernhof seines Co-Autors Josef-Otto Freudenreich, riss er euphorisch von seiner eigenen Formulierungskunst die Arme in den italienischen Himmel: "Ich bin der größte laufende Schriftsteller der Welt." Da lachte man im Sudhaus.

Und einer hätte da fast mitgelacht: Helmut Digel. Auch er war eingeladen zum Fest, und er hatte schon zugesagt. Er kam dann doch nicht, weil die aufregenden Tage davor die alten Wunden wieder aufgerissen hatten. Jetzt, da alles vorbei ist und Baumanns Sicht der Dinge schwarz auf weiß und 40 000 Mal gedruckt auf den Ladentischen der Buchhandlungen liegt, kann der Ausnahmeläufer auch wieder versöhnlich sein. "Ich hatte immer den Eindruck, Digel wollte mir helfen. Aber er konnte es nicht." Ist auch Digel nur ein Gefangener des Systems? Dieter Baumann sagt fast mitleidig: "Auch er hat einen hohen Preis bezahlt. Er hatte vor diesem Skandal eine internationale Karriere als Sportfunktionär vor sich."

Dieter Baumanns Familiendomizil in Tübingen liegt nicht weit vom Spitzberg, einem Hügel, der ihm in den zurückliegenden Jahren nicht nur des Namens wegen zu einem tröstenden Ort geworden ist. "Ich lief den Spitzberg hinauf und fing an, mit mir selbst zu reden", erzählte er bei der Party, "ich lag dort oben im Schnee und dachte: nie mehr." An einem jener Abende war Baumann ins nahe Landestheater Tübingen gegangen, eine Band, die "Randgruppencombo", spielte Lieder von Gerhard Gundermann. Plötzlich habe der Sänger gesagt, das nächste Lied sei für Dieter Baumann: "Immer wieder wächst das Gras." Naheliegend, dass am Montagabend denn auch die "Randgruppencombo" im Sudhaus auftrat - mit einem Lied im Repertoire, dessen letzte Zeilen ihn vielleicht zum Titel seines Buches inspirierten: "Und ich habe keine Zeit mehr/ ich nehm den Handschuh auf/ ich laufe um mein Leben/ und gegen den Lebenslauf."

Anschließend gab es Maultaschen mit Kartoffelsalat.

Es ist nicht zynisch, wenn man vermutet, dass Dieter Baumann eines Tages für die zurückliegenden zwei Jahre sogar dankbar sein wird. Sportlich haben sie ihm zwar nichts eingebracht, doch gewonnen hat er etwas viel Wertvolleres: Er hat viel über sich selbst gelernt und zudem erfahren, was es heißt, echte Freunde zu haben. "Ich bin euch allen hier tausendfach dankbar", sagte er am Montagabend. Mancher wischte sich die Augen.

Philipp Maußhardt

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