zum Hauptinhalt

Sport: Menschlicher Makel

Wolfram Eilenberger über Kant und die Bundesliga-Schiedsrichter Es geschah am helllichten Tag. Und alle, selbst der ansonsten restlos indisponierte Schiedsrichter Gagelmann samt Gespann, haben es genau gesehen.

Wolfram Eilenberger über Kant

und die Bundesliga-Schiedsrichter

Es geschah am helllichten Tag. Und alle, selbst der ansonsten restlos indisponierte Schiedsrichter Gagelmann samt Gespann, haben es genau gesehen. Haben gesehen, wie Andreas Neuendorfs Versuch eines Befreiungsschlages an die Handfläche des heranstürmenden Markus Schroth prallte, um von dort ohne weitere Umwege ins Tor der Herthaner zu segeln. Ein Pfiff blieb aus, Schroths Tor entschied das Spiel, und damit steckt Fußballdeutschland wieder einmal mittendrin in einer Grundsatzdiskussion zu Qualität, Funktion und Grenzen des Schiedsrichterwesens. Der unangefochtene Lieblingsvorschlag sich fortschrittlich wähnender Kritiker besteht dabei seit langem in der Einführung des so genannten Videobeweises oder, noch besser, der Installierung eines tennisähnlichen magischen Auges. Muss solch feines technisches Überwachungsgerät doch versprechen, den Fußball endgültig vom Makel menschlicher Fehlbarkeit zu erlösen.

Einer der interessantesten Aspekte des Schrothschen Handtores aber besteht in der Tatsache, dass eine Videobeweis das Entscheidungsdilemma und die damit verbundene stadionweite Erregung nicht behoben, sondern nur noch verschärft hätte. Denn zur Frage stand ja nie, ob die Hand des Münchener Stürmers Schroth den Ball berührt hatte – Gagelmann stand so gut, wie er stehen konnte – , sondern, ob es sich bei dieser Aktion um ein zu ahndendes Vergehen gemäß Regel 12 (Verbotenes Spiel) handelte.

Diese Regel definiert ein Handspiel ausdrücklich dann als irregulär, wenn ein Spieler den Ball „absichtlich mit der Hand“ spielt. Gagelmanns unmittelbare Herausforderung bestand damit in der Ermessung, ob Schroths seltsam zielführende Aktion unter diese Regel falle oder nicht. Zu der, wesensgemäß von einem gewissen Spielraum geprägten und deswegen auch immer bestreitbaren, Meisterung solch einer Herausforderung bedarf es einer Fähigkeit, für die der unbestrittene Oberschiedsrichter unter Deutschlands Philosophen, Immanuel Kant, einst die Bezeichnung Urteilskraft ersann.

Diese auch für die Tätigkeit eines Fußballschiedsrichters bestimmende Herausforderung der Urteilskraft, also Allgemeines (wie Fußballregel 12) auf ein spezifisches Phänomen (wie Schroths Handtor) anwenden zu müssen, wird weder mit technischen noch mit mechanischen Verfahren aus der Welt zu schaffen sein. Sie ist auch kein menschlicher Makel, der dem Fußball auf ewig anhaftete. Ganz im Gegenteil erkannte Kant in der Herausforderung der Urteilskraft geradezu das Wesen der ästhetischen und auch sportlich-spielerischen Bestimmung des Menschen. Es mag also zwar sein, dass unsere Bundesliga-Schiedsrichter am vergangenen Wochenende wieder einmal einen riesen Bockmist zusammengepfiffen haben. Aber, wie heißt es doch so schön vom Deutschen Fußball-Bund formuliert und nach Kant vollkommen richtig: „Ohne Schiri geht es nicht.“ Was übrigens genau daran liegt, dass es sich bei diesen stets schwer zu durchdringenden Wesen „auch nur um Menschen handelt“. Wir sollten uns, bei Lichte betrachtet, auch in Zukunft nicht wünschen, dass es anders sei.

NAME

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false