zum Hauptinhalt
Kung-Fu-Weltmeisterin Tatjana Herrmann zeigt dem jungen Afghanen Jan die richtige Haltung. Links neben ihm steht Mohammad, der vor wenigen Monaten nach drei Jahren Flucht Deutschland erreichte.

© LSB/Engler

Minderjährige Flüchtlinge und Kung Fu: Sport, der Integrationshelfer

Der Sport versucht unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu integrieren und stößt dabei an seine Grenzen. Doch mehr als jeder andere Gesellschaftsbereich kann er Menschen in einer Gemeinschaft aufnehmen.

Am späten Montagnachmittag, wenige Stunden, bevor ein 17-jähriger Afghane mutmaßlich im Namen des IS in einem Regionalzug bei Würzburg mehrere Passanten angreifen und schwer verletzen wird, stehen Jan und Mohammad neben ihren Trainingskollegen in einer Turnhalle in Berlin-Pankow, ihre Beine und Arme schnellen abwechselnd nach vorne. Sie stoßen einen lauten Schrei aus. Tatjana Herrmann beobachtet das mit verschränkten Armen und grinst. Sie weiß in diesem Moment noch nicht, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wie Jan und Mohammad in wenigen Stunden ein noch größeres Thema als ohnehin schon sein werden. Dass die Tat bei Würzburg eine ganze Gruppe von Menschen noch mehr unter das Brennglas rücken wird und dass der sogenannte „Axt-Terrorist“ und die Frage, welche Gefahren von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ausgehen, die Schlagzeilen dominieren werden.

Sport als beste Chance für gelungene Integration

Herrmann ist mehrfache Kung-Fu-Weltmeisterin und Vorsitzende des Shaolin-Kulturvereins. Sie führt vor, was sie ihrer Gruppe, allen voran den Neuzugängen Jan und Mohammad, beigebracht hat. Die Präsentation des Shaolin-Kulturvereins ist Teil einer kleinen PR-Fahrt, die der Landessportbund Berlin (LSB) organisiert hat. Der will an diesem Montag zeigen, dass der Sport in Berlin seiner Rolle als Integrationshelfer wunderbar nachkommt und macht auf einer Busfahrt quer durch die Stadt bei Sportvereinen halt, die beispielhaft für gelungene Integrationsarbeit stehen sollen. „Etwa zehn Prozent der Berliner Vereine sind an konkreten Integrationsprogrammen beteiligt“, sagt LSB-Präsident Klaus Böger. „Das sind kleine Schritte in die Integration. Der Weg in die Integration ist lang und kompliziert.“ Und gerade darin sieht Böger die Chance und letztlich auch die Aufgabe des Sports. „Im Sport geht vieles einfacher als in anderen gesellschaftlichen Bereichen, weil man bis auf den guten Willen auf beiden Seiten wenige Voraussetzungen braucht.“

Immer mehr Turnhallen werden frei, die Kernaufgabe rückt in den Fokus

Das Thema Flüchtlinge könnte für den Sport plötzlich positiv besetzt werden. Vor wenigen Monaten noch ließen Böger und seine Kollegen aus anderen Sportverbänden aus Berlin wie bundesweit keine Möglichkeit aus, daran zu erinnern, welch fatale Folgen die Sportstättennutzung durch Flüchtlinge für den Sport habe. Es war nicht leicht für die Sportfunktionäre ihre Position zu vermitteln, sie waren mit ihren Ängsten und Mahnungen nicht konsensfähig zur im Herbst vergangenen Jahres noch vorherrschenden Willkommenskultur. Inzwischen aber hat sich die Sportstättensituation entspannt, immer mehr Hallen werden frei. Der Sport kann sich nun wieder mit seinen Kernaufgaben beschäftigen – etwa mit der Integration. Doch, das zeigt auch die vom LSB organisierte Tour, es ist nicht einfach, zu helfen. Viele der Jugendlichen sind schwer traumatisiert, und fast alle von ihnen leben einen tristen Alltag in ihren Flüchtlingsheimen.

Ohne ständigen persönlichen Kontakt geht nichts

Mohammad vom Shaolin-Kulturverein flüchtete aus Syrien. Mit 14 Jahren machte er sich auf den Weg in ein neues Leben, mit fast 17 kam er in Deutschland an. „Er war am Anfang bei uns schon verhaltensauffällig. Er war gestresst, verkrampft und konnte es bei Ballspielen kaum ertragen, wenn jemand in seinem Rücken war“, erzählt seine Trainerin Herrmann. Und Mohammad wäre sicher nicht mehr beim Shaolin-Kulturverein, wäre Herrmann nicht so hartnäckig. Sie schreibt ihm bis heute beinahe täglich WhatsApp-Nachrichten. Zum einen, um ihn ans Training zu erinnern. Zum anderen, um in steter Verbindung zu bleiben. Sie will ihn nicht verlieren. „Ohne diesen ständigen persönlichen Kontakt geht nichts“, sagt Herrmann.

Doch auch hier muss sie aufpassen. Denn dringt sie zu weit ins Innere des Jungen vor, droht sie ihn ebenfalls zu verlieren. Einmal, erzählt sie, wollte sie sich ein Bild von Mohammads Unterkunft machen und suchte ihn dort auf. Mohammad reagierte abweisend und ging anschließend auch nicht ins Training. Fragen nach seiner Person, seiner Herkunft, seiner Familie beantwortete Mohammad zunächst entweder gar nicht oder nur sehr vage. „Man muss sich ganz langsam herantasten“, sagt Herrmann.

Das alte Lied: Es fehlen Mittel, Personal und Zeit

Der Sport, das wird an diesem Beispiel deutlich, steht vor einer großen Aufgabe, will er diesen jungen, oft traumatisierten Menschen helfen. Herrmann ist unheimlich beharrlich und investiert viel Energie und Leidenschaft, um die beiden Neuankömmlinge in die Sportgruppe einzugliedern. Vor allem aber ist sie eine ärztlich geprüfte Gesundheitstrainerin mit psychosozialen Kenntnissen. Der LSB hat bei seiner Tour Halt gemacht bei einem Verein, der nicht beispielhaft für den Umgang des Berliner Sports mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen steht, sondern der in Berlin wohl beispiellos ist.

Denn in Berlin wie bundesweit fehlen dem Sport Mittel, Personal und Zeit, um auf die neuen Anforderungen zu reagieren. Von Senat und Bund erhält der LSB Berlin im Jahr 2016 rund 420.000 Euro Fördermittel für Flüchtlingszwecke. Das reicht, um hier und da Programme anzuschubsen und Vereinen wie dem Shaolin-Kulturverein etwa die Kosten für die Trainingsanzüge und -geräte von Jan und Mohammad zu finanzieren. Es reicht aber nicht, um den 5000 bis 6000 geflüchteten Menschen, die laut LSB-Angaben in diesem Jahr an Berliner Vereinsprojekten teilnehmen werden, auch nur annähernd die Betreuung zukommen zu lassen, wie dies bei Mohammad und Jan der Fall ist. Die beiden profitieren von dem Einsatz von Tatjana Herrmann.

Azad befürchtet Überforderung der Trainer

Auf der LSB-Fahrt ist auch Sosan Azad an Bord. Sie hält für den Landessportbund Seminare zur „Interkulturellen Sensibilisierung“. Azad weiß, wovon sie spricht. Sie entfloh Mitte der Achtziger Jahre dem Krieg in Afghanistan und erreichte im Alter von 17 Jahren Deutschland. „Damals gab es viel mehr Ressourcen. Als ich ankam, hat sich ein ganzes Team um mich gekümmert“, sagt sie. Im Jahr 2016 nach der großen Flüchtlingswelle ist es andersherum. In der Regel kümmert sich ein Mitarbeiter um ein riesiges Team von Flüchtlingen. Azad befürchtet, dass die vielen Trainer überfordert sein könnten mit der Situation. „Es ist wichtig“, sagt sie, „dass die Trainer begreifen, dass es nicht ihre Aufgabe ist, die Jugendlichen ganzheitlich zu betreuen.“ Azad sagt dies auch vor dem Hintergrund, dass die große Mehrzahl der Berliner Trainer im Gegensatz zu Tatjana Herrmann nicht das Know-how im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen hat.

„Zu Beginn sollten die Trainer nicht zu neugierig sein, sie sollten nicht zu tief gehen“, bestätigt auch Azad die Erfahrungen, die Herrmann gemacht hat. „Das kann viel Trauer bei den Jugendlichen hervorrufen.“ Deswegen empfiehlt Azad den Trainern, an den vielen Infoveranstaltungen des LSB zum Thema teilzunehmen, um zum einen zumindest die gröbsten pädagogischen Fehler im Umgang mit den Flüchtlingen zu vermeiden und, zweitens, selbst keinen Schaden von der Arbeit davonzutragen.

Trainer müssen verstehen, dass Aggressivität nichts mit ihnen zu tun hat

Das, erklärt der Wissenschaftler Christian Trumpp, der den LSB zum Thema berät, kann durchaus der Fall sein. „Wichtig ist, dass der Trainer versteht, dass zum Beispiel die Aggressionen der Kinder und Jugendlichen nichts mit ihm, sondern mit ihrer eigenen Situation zu tun haben.“ Trumpp erklärt den Berliner Trainern in seinen Lehrgängen das sogenannte Salutogenesemodell des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky. Salutogenese steht für Wohlbefinden und dieses wird laut Antonovsky – stark vereinfacht – dann erreicht, wenn ein Mensch versteht, was er tut, wenn er nicht überfordert ist und wenn ihm der Sinn seines Handelns bewusst ist. Viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge verstehen nicht immer, was sie tun. Fast alle von ihnen sind mit der Situation überfordert. Und genauso lässt sich das Salutogenesemodell auf die Trainer übertragen.

Zu den Wesensmerkmalen des Sports gehört die Herausforderung. Vielleicht ist er deshalb trotz der vielen Probleme mehr als jeder andere Gesellschaftsbereich in der Lage, die Flüchtlinge in der Gemeinschaft aufzunehmen. Mohammad jedenfalls wirft nicht mehr hastig den Ball weg, wenn jemand in seinem Rücken ist. Auch redet er inzwischen richtig viel. Den Kurs bei seiner größten Förderin besucht er immer, wenn es geht, also drei Mal die Woche. Es ist völlig unzweifelhaft, der Junge ist fester Bestandteil der Gruppe – weil ihn Tatjana Herrmann mit beiden Händen gepackt und zu sich geholt hat.

Zur Startseite