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Sport: Mit Bodenhaftung auf den Olymp

391 deutsche Athleten gehen in London an den Start. Hier stellen wir sechs Medaillenkandidaten vor, für die es bei den Spielen noch um mehr als Gold, Silber und Bronze geht.

BRITTA STEFFEN UND PAUL BIEDERMANN

Britta Steffen hat im Training einiges umgestellt. Sie hat viel mehr an der Ausdauer gearbeitet als im vergangenen Jahr, sie hat das Krafttraining reduziert. Jetzt verkündet sie: „Ich glaube, dass ich jetzt mehr Bodenhaftung habe. Vor einem Jahr dachte ich wirklich, ich würde alles in Grund und Boden schwimmen.“ Die Einzige, die im vergangenen Jahr sportlich am Boden lag und frustriert von der WM flüchtete, war Britta Steffen. Deshalb hat London auch eine ganz besondere Bedeutung für die Weltrekordlerin aus Berlin. In London will sie ihren sportlichen Stellenwert zurückerkämpfen. Es geht nicht bloß um eine Medaille, es geht auch um ihre Ehre. 2008 gewann sie in Peking über 50 Meter und 100 Meter Freistil Gold, ein überragender Erfolg. Aber er setzte sie, die Perfektionistin, auch unter Druck. Platz zwei war für sie viele Jahre lang eine gefühlte Niederlage. Jetzt redet sie nicht von Gold, nur von einer Medaille. Vermutlich meint sie diese Zielsetzung, wenn sie von Bodenhaftung spricht. Mit zwei Olympiasiegen wie in Peking ist in London kaum zu rechnen, dafür sind die Konkurrentinnen in dieser Saison zu gut geschwommen. Aber bei Britta Steffen ist andererseits alles möglich, im positiven wie im negativen Sinne. Sie ist überhaupt nicht mehr einzuschätzen. Das unterscheidet sie von ihrem Freund Paul Biedermann. Der ist im Vergleich zu seiner Freundin so sensibel wie ein Kaltblüter im Pferdestall. Der Doppel-Weltmeister von 2009 liebt Duelle, den Kampf Mann gegen Mann. Deshalb wäre er über 200 Meter Freistil auch gerne gegen Michael Phelps geschwommen. Aber der US-Amerikaner verzichtet auf diese Strecke. Die Konkurrenz für den Deutschen über 200 Meter Freistil ist trotzdem extrem groß. Auch über 400 Meter Freistil muss er auf einen starken Gegner verzichten: Der Franzose Yannick Agnel hat für die Strecke abgesagt. Er konzentriert sich lieber auf die 200 Meter Freistil. Wenigstens dort kann ihn Biedermann dann stellen. fmb

PHILIPP BOY

Die Spiele von Peking sollten die von Fabian Hambüchen werden, vielleicht werden die von London ja die von Philipp Boy. Der 25 Jahre alte Cottbuser hat seinen hessischen Konkurrenten nicht nur eingeholt, sondern überholt. Zweimal hintereinander ist Boy Vizeweltmeister im Mehrkampf geworden, in dem Wettbewerb also, in dem der vielseitigste Turner ermittelt wird. Auch an Hambüchens Spezialgerät, dem Reck, kann Boy mithalten. Eine Zeit war der Konkurrenzkampf innerhalb der deutschen Mannschaft spürbar, Boy machte sich über die Autobiografie Hambüchens lustig, der reagierte trotzig. Inzwischen haben beide wohl ihren Weg mit-

einander gefunden. Zumal es auch zusammen etwas zu gewinnen gibt, im Mannschaftswettbewerb rechnen sich die deutschen Turner eine Chance auf eine Medaille aus. Alleine kann Boy ebenfalls viel erreichen, im Mehrkampf wie in den Gerätefinals. Im Trainingslager in Kienbaum hing eine Tafel mit den Wettkampfwerten der Japaner an der Wand, an denen wollen sich die deutschen Turner orientieren, vor allem an denen des Weltmeisters Kohei Uchimura. Unterschiedliche Verletzungen haben Philipp Boy zwar immer wieder beeinträchtigt und zurückgeworfen, aber davon will er jetzt nichts mehr hören. „Einfach Zähne zusammenbeißen“, sagt er. Umso erstaunlicher, dass Boy bei so viel Selbstdisziplin auch noch so elegant turnt. Dafür ist er bei einer WM schon mit einem Extrapreis ausgezeichnet worden. teu

MATTHIAS STEINER

Die kleinen Augen unter dem kurzen dunklen Struwwelhaar, der schmale Mund und der zu alldem viel zu groß erscheinende Kopf. Dieses Gesicht kennt inzwischen jeder, was bei einem Gewichtheber ja nun wirklich nicht selbstverständlich ist. Von jetzt auf gleich ist Matthias Steiner vor vier Jahren vom Nobody zu einer echten Berühmtheit aufgestiegen. Mit seiner olympischen Goldmedaille, zu der er sich in Peking mehr für seine bei einem Unfall getötete Frau als für sich selbst quälte, gewann er auch den Bambi, das Silberne Lorbeerblatt und die Trophäe für den Sportler des Jahres. „Mehr geht eigentlich nicht“, hat Steiner danach gesagt. Und will jetzt doch mehr: noch eine Medaille. 450 Kilogramm müsste er dafür wohl mindestens im Zweikampf der Superschwergewichtler stemmen. In Peking wuchtete er ganze 461 Kilogramm, doch an diese Leistung ist er auch wegen Verletzungen seither nicht mehr herangekommen. Zuletzt bereitete sich Matthias Steiner in Österreich vor – völlig zurückgezogen, abgeschirmt. Denn die neue, weitere Last wird er in London noch früh genug zu spüren bekommen: Diesmal werden gleich alle auf ihn schauen. ks

ROBERT HARTING

Es hätten wohl nicht viele geglaubt, dass Robert Harting einmal so etwas wie der heimliche Anführer der deutschen Olympiamannschaft werden könnte. Als der Diskuswerfer seine ersten internationalen Erfolge feierte, zum Beispiel die Silbermedaille bei der WM 2007, trampelte er noch auf der großen Bühne umher. Er zerriss sein Trikot und brummte, dass er jetzt erst einmal ein Glas „Männermilch“ brauche. Das mit dem Trikotzerreißen bei großen Triumphen hat er beibehalten, aber nötig hat er es nicht mehr. Harting hat sich mit seinen Erfolgen, vor allem den beiden WM-Titeln 2009 und 2011, seine Stellung im deutschen Sport erarbeitet. Dazu kommen einige selbstreflektierte Äußerungen. Etwa, dass er anderen Angst mache, aber das gar nicht wolle. Oder dass er auch viel einstecken könne. „Auf meinem Kreuz ist noch viel Platz.“ Einen Mentaltrainer brauche er nicht. „Mir reicht als Mentaltraining, die Kalendertage bis Olympia runterzuzählen.“ In diesem Jahr hat er seine persönliche Bestleistung erst auf 70,31 Meter und dann auf 70,66 Meter gesteigert. Die letzten 28 Wettkämpfe hat Harting gewonnen, er ist der große Favorit auf die Goldmedaille, auch wenn es ihn misstrauisch macht, dass sich sein Hauptkonkurrent, der Pole Piotr Malachowski, schon einige Zeit nicht mehr im Stadion blicken ließ. Es war wohl auch Harting gemeint, als Michael Vesper, der Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes, sagte: „Ich gehe davon aus, dass wir mindestens einen deutschen Leichtathletik-Olympiasieger sehen werden.“ Harting muss dafür nur eine kleine Umrechnung vornehmen. In den geraden Jahren habe er immer gegen Malachowski verloren, in den ungeraden gewonnen. „Aber die Quersumme von 2012 ist fünf.“teu

BRITTA HEIDEMANN

Sie stakste nicht wie so viele dieser Amateurmodels bei Heidi Klums Fernsehshow, sie schritt einfach, für eine Modenschau war es sehr in Ordnung. Britta Heidemann präsentierte in Düsseldorf das Outfit der Olympiamannschaft, es machte ihr viel Spaß. Aber noch interessanter war ihr Satz: „Das Schönste an diesem Anzug ist, dass er dir zeigt: Du gehörst wieder dazu.“ Britta Heidemann, die Olympiasiegerin im Degenfechten von 2008, gehörte im Oktober 2011 kurzzeitig nicht mehr dazu. Sie, die Weltranglistenerste von 2011, scheiterte bei der Weltmeisterschaft in Catania, Italien, nach vier Niederlagen schon in der Vorrunde. Platz 126,

so etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie hatte ihre unbekannte Gegnerin unterschätzt, eine ganz bittere Erfahrung für die aktuell bekannteste und populärste deutsche Fechterin. So etwas soll ihr nie mehr passieren, in London ist sie deshalb unverändert eine Kandidatin für die Medaille, auch wenn sie bei der EM 2012 nur Platz fünf belegte. Der Olympiasieg 2008 war nicht bloß der größte sportliche Erfolg von Britta Heidemann, er hat ihr auch eine wichtige Erkenntnis gebracht. Sie hatte sich danach gefragt, was denn noch kommen soll, aber irgendwann hatte sie die Antwort: Ihr Sport macht ihr einfach noch unglaublich viel Spaß. Die Pleite von Catania hat auch eine positive Seite: Sie stachelt auch an. „Meine positive Grundstimmung ist zurück", sagt die 29-Jährige. fmb

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