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Sport: Mit den Augen anderer sehen

In immer mehr Bundesliga-Stadien schildern Blindenreporter das Geschehen

Achim Töns hat seine Frau Petra an die Hand genommen. „Hier sind die Stufen“, sagt er. Dann tasten sich die beiden mit ihren Stöcken die Treppen hinunter. Zielsicher steuern sie auf ihre Plätze zu. Block Y, Reihe 11, Platz 31 und 32. Bei jedem Heimspiel sitzen die beiden in ihren blauen Trainingsanzügen in der Südkurve, drücken sich die Kopfhörer auf die Ohren und dem FC Schalke 04 die Daumen. Anders als die meist 60 000 anderen Stadionbesucher sehen Petra und Achim Töns nicht das Grün des Rasens oder das blaue Fahnenmeer. Petra und Achim Töns sind blind.

Ihre Augen sitzen gut 40 Meter von ihnen entfernt im Restaurant Schalker Markt. Dort hockt Karl-Heinz Witteck hinter einer Glasscheibe. In der einen Hand hält er ein Mikrofon, in der anderen die Aufstellungen. „Jetzt betreten die Spieler den Rasen“, sagt er. Eine Viertelstunde lang wird Witteck alles erzählen, was er sieht, ohne Pause. Dann wird er an seinen Kollegen Thomas Krawinkel übergeben. Witteck ist einer von vier ehrenamtlichen Blindenreportern auf Schalke. In Zweierteams schildern sie den blinden Gästen das, was in der Dunkelheit um sie herum passiert. Ein Service, den immer mehr Vereine anbieten. Bayer Leverkusen war im Oktober 1999 der erste Klub. Inzwischen sind Mönchengladbach, der Hamburger SV, Wolfsburg und Schalke hinzugekommen. Hertha BSC plant ein ähnliches Angebot. Viele Vereine arbeiten mit dem Blinden-Fußballfanklub Sehhunde zusammen, in dem sich blinde und sehbehinderte Fans organisiert haben.

Von seinem Reporterplatz aus in der Arena Auf Schalke sieht Witteck die Schalker Spieler auf sich zu kommen: „Ein Schalker hat den Ball im Mittelkreis erobert. Ich glaube, es war Waldoch. Waldoch passt zu Kobiaschwili. Der zu Asamoah.“ Witteck redet jetzt schneller. „Asamoah hat den Ball, er ist am Sechzehnmeterraum, passt quer auf Lincoln, der schießt, Tor, was für ein herrliches Tor.“

„Wir genießen die Atmosphäre“, sagt Petra Töns. Sie war 1987 zum ersten Mal auf Schalke, die 35-Jährige stand in der Fankurve, neben Bekannten. Die haben ihr erklärt, was auf dem Rasen los war.

Seit zwei Jahren sind Witteck und Krawinkel ein Reporterteam. Eine besondere Ausbildung haben der Verwaltungsleiter einer Volkshochschule und der Werkstofftechniker nicht gemacht. Witteck erzählt gern von seinen Erlebnissen. Etwa von den Schwierigkeiten, als die Batterie im Mikrofon leer war und er durch das ganze Stadion rennen musste, um eine neue aufzutreiben. Oder davon, dass er und sein Kollege sich bemühen, viele Positions- und Zeitangaben einfließen zu lassen.

Halbzeit. Witteck und Krawinkel melden sich kurz ab. Petra und Achim Töns stehen auf, tasten sich zum Bierstand. Nach Spielschluss werden sie vor ihrem Block abgeholt und nach Hause gefahren. Ansonsten finden sich die beiden in ihrem Alltag gut zurecht. Achim ist Masseur, Petra arbeitet beim Finanzamt.

Wiederanpfiff. Der Ball rollt jetzt auf das Schalker Tor, aber Krawinkel kann nicht genau sehen, wer den Ball führt. „Wir können nicht auf die Reporterplätze an der Spielfeldseite. Dazu ist die Senderreichweite nicht groß genug“, sagt Krawinkel. Die Blinden fühlen sich trotzdem gut informiert. „Die Reporter können auf die Fernseher gucken. Da wissen wir oft eher, dass es kein Abseits war, und können unsere Nachbarn beruhigen“, sagt Petra Töns.

Dann ist Schluss. Schalke hat gewonnen. Petra und Achim Töns kommen die Treppen hinauf. Mit leeren Bierbechern in der Hand diskutieren sie über das Spiel. Als Petra Töns sich verabschiedet, sagt sie: „Tschüss. Vielleicht sieht man sich mal wieder.“ Dann tastet sie sich mit Achim an der Hand nach draußen.

Jürgen Bröker[Gelsenkirchen]

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