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Mit Hertha leiden: Blau ist die Hoffnung

Hertha-Fan Susan Sangel hat gelitten und gepfiffen und Wut gehabt. Trotz des Abstiegs ist sie doch wieder im Hertha-Fieber. Sie träumt vom zweiten Zweitliga-Sieg am heutigen Abend und vom direkten Wiederaufstieg.

Am frühen Freitagnachmittag macht Susan Sangel Feierabend. Sie verlässt den Backstand, erledigt die Abrechung, legt den Kittel ab, rafft die Haare mit den blondierten Strähnen zum Zopf. Das Auto steht vorm Supermarkt in der prallen Sonne. Es fiebert. Die Buchstaben auf dem Nummernschild: B-SC. Am Zündschlüssel baumelt ein metallenes Hertha-Emblem, am Rückspiegel eins aus Pappe. Das Hertha-Blau der Fußmatten haben Susan und Manfred Sangel im Laufe der Jahre heruntergetreten. Es ist der 20. August, jener Tag vor gut einer Woche, da die Bundesligasaison 2010/11 begann. Neujahr, sozusagen. Das Handy mit Hertha im Display meldet einen Anruf. Es klingelt nicht, es singt. „Ha, ho, he, Hertha BSC!“ Neujahr ist der Tag der guten Vorsätze. Susan Sangel will aufsteigen.

Dani ist dran. Die Freundinnen diskutieren, ob sie vorm Stadionbesuch bei Dani zu Hause einen Kaffee trinken, so, wie sie es früher bei jedem Heimspiel gemacht haben. Auch diesmal? So wie immer oder anders? Wie fühlt sich Zweite Liga an? „Alle sind nervös“, sagt Susan Sangel.

Wie immer, das wäre: Kaffee trinken, plaudern, umziehen. Im Winter geht’s drum, Kleidung übereinander zu stülpen und sich trotzdem bewegen zu können. Im Sommer darum, dass sie alle dieselben Hertha-Shirts tragen. Dann: vorm Olympiastadion Crêpes essen, 30 Minuten vorm Spiel auf Block 31.1. steigen. Reihe acht, Platz sechs und sieben sitzen Sangels, daneben die anderen elf vom „Fanklub Oberring“. Kurz vor Anstoß geht Susan Sangel noch mal zur Toilette. Wenn der Pfiff ertönt, steht sie aufrecht vorm Klappsitz. Das gibt Ärger in den hinteren Reihen. Fußballfans geben sich rabiat, weil sie permanent unter schwachen Nerven leiden. Susan Sangel ruft: „Ich setz mich erst, wenn der Ball rollt.“

Vor Neujahr wird gewöhnlich Silvester gefeiert. Die Fans vom Oberring haben zum Saisonende keine große Party veranstaltet, sondern gegrillt und versucht, dabei nicht an Fußball zu denken. Schließlich war Hertha abgestiegen. 15 Heimspiele scheiterten. Im Olympiastadion hockte das Unheil und ging den tapferen Fans an die Nerven.

Susan Sangel schimpfte über die leistungsschwachen Fußballer. „Ich falle nie aus, ich geh noch mit dem Kopp unterm Arm zur Schicht.“ Aber weil Fans immer „wir“ sagen, wenn sie Hertha meinen, fühlten sie sich am Saisonende wie: „Wir haben es nicht geschafft.“ Und jetzt, zu Saisonbeginn, rufen sie: „Bei jedem Spiel sind wir dabei! Zweite Liga? Einerlei!“

Doch siehe da, schon beim Routinetreff in Danis Wohnung läuft heute alles anders. Der Computer streikt und verwehrt Dani den Zugang zum Hertha-Chat, wo sie wie gewöhnlich ihren Tipp zum Ausgang des Spiels abgeben will. Auch vor dem Stadion ist es nicht so wie gewohnt. Seit Stunden läuft ein Fanfest, Massen wollen hinein, aber die Pforte, an der Vereinsmitglieder schnell Zutritt haben, wird diesmal erst 90 Minuten vorm Spiel geöffnet. „Sind wir jetzt nichts mehr wert?“, brüllt Susan Sangel. Mit ihr drängen sage und schreibe 48.385 Menschen durchs Tor. Auf eine Mannschaft hoffend, die erst kürzlich an diesem Ort das eigene Verschwinden zelebrierte. Das ist unglaublich. Unglaublich ist auch: Als sie endlich drin ist, gibt’s keine Programmhefte mehr. Still und heimlich verschafft sich die Zweite Liga ihren Respekt. Sangel brüllt: „Jetzt sind wir in der Provinz angekommen!“

Auch die Fans im VIP-Bereich des Olympiastadions können nicht wirklich etwas dafür tun, dass Hertha BSC aus der Zweiten Liga gleich wieder aufsteigt. Obgleich sie Werbekunden sind, Sponsoren, die Dauerkarten kaufen und Tische nebst Bedienung. Obgleich ihr Geld den Verein handlungsfähig macht. Als die Mannschaft beim Auftaktspiel gegen Rot-Weiß Oberhausen bereits in der siebten Minute ein Gegentor kassiert, können auch sie nur schweigend erstarren. Der Ball geht ins Netz. Liegt da. Wie gehabt. Und das Stadion hält still, als wäre niemand anwesend.

80 Prozent der Sponsoren und Werbekunden unterstützen Hertha weiterhin. Obwohl das Olympiastadion mit Zweitligamannschaften nicht mehr so attraktiv ist, weniger Geld eingenommen wird, wurde in der Geschäftsstelle niemand entlassen. Auch die Agentur, die Hertha BSC vermarktet, investiert dieselbe Kraft wie in der Ersten Liga. Eine nahezu unheimliche Zuversicht wird Fußballern zuteil, deren Namen bei Sprechchören im Auftaktspiel vom Zettel abgelesen werden und die obendrein so fremd sind, dass die meisten Zuschauer sie nur schwer aussprechen können. Das finanzielle Risiko ist hoch. Möglicherweise liegen die Nerven bald wieder blank. Insofern ist Hertha typisch Berlin.

Berlin will nicht Zweite Liga sein und hat den Gedanken daran stets verdrängt. Die Stadt, die vorgibt, etwas Besonderes zu sein, hat Herthas Marketingagentur dazu verleitet, anstatt herkömmlicher Werbung am Spielfeldrand Videobanden zu installieren. Das Angebot im VIP-Bereich ist so breit, dass für jeden Geldbeutel was dabei ist. Eine große Lounge mit Ledersesseln und Sofas, Fingerfood, Cocktails und einem DJ lockt Werbeagenten, Musiklabelbesitzer, Clubinhaber und Szenegänger an, Männer, die gewöhnlich keine Fußball-VIP, aber in Berlin überall dabei sind. Lediglich Herthas Marketingmänner wurden von den Gästen schon nach der Hinrunde der letzten Saison mit der unangenehmen Frage behelligt, was VIP-Plätze in der Zweiten Liga kosten. Sie mussten sich Gedanken machen, brauchten was in der Schublade, die sie dann leider auch bald öffnen mussten. Zwar wurde der VIP-Bereich verkleinert. Doch aller Service bleibt. Der Glaube an Hertha beruht darauf, dass die Kunden die Veränderung nicht merken.

Wie in den Jahren zuvor sitzt der Unternehmer Michael Bohn unter ihnen. Der Mittfünfziger mit der grauen Stoppelfrisur installiert und verwaltet Wärmemessgeräte und zeigt sich Geschäftskunden erkenntlich, indem er mit ihnen die Leidenschaft für den Fußball teilt. Gemeinsam verfolgen sie Spiel und Pressekonferenz, dann trinken sie und speisen. Niemals redet er von selbst übers Geschäft, die zufriedenen Kunden beginnen damit. Der VIP-Bereich ist eine Kontaktbörse. Sobald es auf dem Rasen guten Fußball gibt, bahnen sich hier gute Geschäfte an. „Ich habe Hertha viel zu verdanken“, sagt Bohn.

Er schwärmte schon als kleiner Junge für Hertha, zog mit Vater und selbst gebastelter Fahne in die Plumpe, das Stadion am Gesundbrunnen. Später zwängte er sich allein in die S-Bahn, stand im Fanblock, es war eng und laut, und als er sich irgendwann eine Sitzplatz-Dauerkarte leisten konnte, begann sein Aufstieg als Fan. Heute parkt er das Auto auf einem reservierten Platz.

Michael Bohn wuchs in Neukölln auf. Er blickte vom Fenster auf einen Fußballplatz, bettelte, bis die Eltern ihn mit acht dort spielen ließen. Er war Libero, zweimal in der Berliner Auswahl und so lange aktiv, bis man ihm mit 24 auf dem Rasen den Knöchel zertrat. Er erwarb Trainerlizenzen, trainierte bis in die Zweite Liga. Nach den Spielen saß er mit der Mannschaft zusammen. Es wurde auch mal später. „Wenn wir 0:2 verloren hatten, wurde beim Bier ein 3:2 draus.“ Vor 20 Jahren entschied er sich, ganz der Chef seiner mittelständischen Firma zu sein. Er gibt klare Anweisungen, führt kritische Gespräche, organisiert Motivierungsreisen. „Ich bin Sportsmann“, sagt er.

Seit er nicht mehr als Trainer arbeitet, hat sich der Fußball verändert. „Ich war eine Respektsperson, wenn ich gesprochen habe, war absolute Ruhe. Heute ist der Trainer Statist und versucht, das Beste draus zu machen, dass die jungen Männer, die auf ihn hören sollen, Millionen verdienen“, sagt er. „Jeder in der Mannschaft macht seins. Einer geht nach dem Training Kaffee trinken, der andere zum Italiener, der Dritte nach Hause. Und wer seinen Job verpatzt, geht einfach weg.“ Bohn ist wie alle Fußballfans. Er liebt. In der enttäuschenden letzten Saison hat er sich tatsächlich die O2-World angesehen. Auch dort kann man Stammplätze mieten. Man bekommt alles: Eishockey, Basketball, Shows, Konzerte. „Aber eben keine Fußball-Atmosphäre“, hat er nach dem Probesitzen gesagt.

Susan Sangel würde nie mit der O2-World liebäugeln. Hertha ist ihr Leben. Wenn sie ihre Wohnung im Neuköllner Parterre betritt, steht sie auf Hertha-Auslegeware. Nachdem die vor elf Jahren verlegt war, strich sie die Türen blau, versah die weiße Wand mit blauen Flecken, hängte Wimpel, Mannschaftsfotos, Ehrenurkunden auf. Sie hat Dekorateurin gelernt. Vom Flur aus hat sich Hertha über die ganze Wohnung ausgebreitet. Sangels lehnen an Hertha-Kissen und kuscheln sich in Hertha-Decken. Der Ventilator an der Decke dreht sich um einen Fußball. Der Hertha-Gartenzwerg ist eine Sonderanfertigung. Sie trinken aus Hertha-Tassen und putzen sich mit Hertha-Bürsten die Zähne. Das Schild am blauen Klo verkündet: „VIP Lounge“.

Wäre die offizielle Vereinsbettwäsche nicht zu klein für ihre Decken, würden sie auch in Hertha-Blau schlafen. Blau ist die Farbe des unendlichen Himmels und des weiten Meeres, die Farbe der Treue, denn Treusein lernt man in der Ferne. Sangels und die anderen vom Oberring zahlen Vereinsbeiträge, gehen zu Mitgliederversammlungen ins ICC. Die Mannschaft kommt auch dorthin. „Ick peif die aus!“, hat Susan Sangel letzte Saison verkündet. In Danis Wohnung schimpfen sie gemeinsam auf Dieter Hoeneß, der nach Wolfsburg ging und Hertha seitdem in Interviews nicht einmal mehr erwähnt. „Wir waren nur seine Arbeitsstelle!“ Sie rechnen auch mit Arne Friedrich, einem der wenigen Hertha-Stars, ab: „Er sollte für die Hälfte spielen und den Karren, den er in den Dreck gefahren hat, wieder rausziehen!“ Dani ruft: „Man kann doch mal verzichten!“ Susan Sangel fügt hinzu: „Zumal wenn’s nicht wehtut!“

Sie wurde 1968 in Pankow geboren. Den Kinderwagen, in dem sie lag, schob der Vater ins Stadion am Jahnsportpark zum BFC. 1987 wurde sie dort Ordnerin, einfach um dazuzugehören. Nach dem Mauerfall kam jemand von Hertha in den Prenzlauer Berg und schlug einen Ordneraustausch vor. Aber keine Frauen, sagte er. Alle oder gar niemand, haben sie beim BFC geantwortet.

Also machte Susan Sangel mit, und nach einem halben Jahr fragte Hertha, ob sie bleiben will. Beim BFC war Ausverkauf, im Januar 1991 wurde sie Hertha-Mitglied. Weil sie nicht an Eingängen stehen, sondern Spiele sehen wollte, schenkte sie im VIP-Bereich Kaffee aus. Ihr Arbeitsauftrag war, es den Kunden so angenehm wie möglich zu machen. Das ging nicht, weil Hertha so oft verlor. Vor allem die Trauermiene, die Manfred aus Wilmersdorf zog, hat sie genervt. Er merkte nicht einmal, dass sie sich für ihn interessierte. Als sie ihm ihr BFC-Feuerzeug zeigte, sah er sie entsetzt an. Sie führen eine Beziehung, in der einer den anderen als seine „bessere Hälfte“ bezeichnet. Unzufriedenheit entsteht auf dem Rasen. Sie sind geübt darin, einander zu trösten.

Kinder haben Sangels nicht. Es hat sich nicht ergeben. Ihre Zeit geht für Hertha drauf. Als Arbeitsstelle hat sich Susan Sangel nicht den Kaiser’s-Markt um die Ecke, sondern einen nahe am Olympiastadion ausgesucht. Alle vier Wochen, wenn sie samstags frei hat, fährt sie zu Auswärtsspielen. Mehr als 40 Euro kann sie für eine Karte nicht ausgeben. „Wir müssen außer Hertha noch Essen und Miete bezahlen.“ Die Dauerkarten sind ausgerechnet immer dann fällig, wenn auch die Autoversicherung dran ist. Aber Hertha sei Dank haben sie etwas von der Welt gesehen. Sie waren in Istanbul, Barcelona, London, Mailand. Wenn das Paar über seine schönste Zeit reden soll, erzählt es von der Champions-League-Saison.

Das erste Zweitligaspiel gewinnt Hertha. Ein bisschen unsicher, egal. Sieg ist Sieg, heute kann der nächste dazukommen, dann sind es schon zwei. Einen Champion haben die Hartha-Fans dann noch lange nicht. Aber die Zweite Liga fühlt sich gut an, wenn man sich aus ihr herauswindet wie aus einem kratzigen Pullover.

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